Die Welt der Commons

Muster des gemeinsamen Handelns

Guassa — eine besondere Art des Ressourcenschutzes

Zelealem Tefera Ashenafi

In Äthiopien gibt es eines der ältesten und wirkungsvollsten Naturschutz- und Bewirtschaftungssysteme in Afrika südlich der Sahara: die Menz-Guassa Community Conservation Area, eine 11.100 Hektar große Region, mit einer Vielfalt an Grassavannen, Pflanzen und seltenen Tieren. Der Äthiopische Wolf, der Blutbrustpavian und der Abyssinische Hase sind dort beheimatet.

Die verschiedenen indigenen Bodenordnungen in Äthiopien sind in sehr komplexen Prozessen entstanden. Dabei verdient die Geschichte der Bodenordnung im Guassa-Gebiet, die sogenannte »Atsme Irist«,1 besondere Beachtung. Sie gibt Aufschluss darüber, wie Menschen im Distrikt Menz seit mehr als 400 Jahren in der Lage waren und sind, wertvolle Weidegebiete und Ökosysteme regelmäßig gemeinsam zu nutzen, aber auch zu bewahren.

In Menz, wozu das Guassa-Gebiet gehört, gab Atsme Irist der dort ansässigen Bevölkerung über Jahrhunderte hinweg das Recht, einen Anteil des Landes gemeinsam mit anderen rechtmäßigen Grundbesitzern zu halten. Dieses Recht geht auf konkrete Vorfahren zurück. Gespräche mit Ortskundigen ergaben, dass die Gründerpioniere Asbo und Gera im 17. Jahrhundert dieses Managementsystem ins Leben gerufen hatten. Gera hatte zunächst ein Stück freies Land in Guassa, im östlichen Teil von Menz, als sein Weideland abgegrenzt. Später haben Asbo und Gera dieses Land – dem Ausgang eines Pferderennens entsprechend – in zwei Teile geteilt. Die Grenze wurde an der Stelle gezogen, an der das erste Pferd vor Erschöpfung nicht mehr weiterlaufen konnte.

Die beiden Pioniere bestimmten, dass das Guassa-Gebiet hauptsächlich als Weideland sowie für die Ernte von Guassa-Gras (Festuca sp.) genutzt werden sollte. Wer immer durch den einen oder anderen Elternteil die Verwandtschaft mit Asbo oder Gera nachweisen konnte, hatte Anspruch auf einen Teil des Landes, wobei jeweils die Ältesten die Zuteilung überwachten. Guassa teilt sich noch heute in zwei große Gebiete, die nach den Vätern benannt sind: Asbo im Norden und Gera im Süden.

Das indigene Bewirtschaftungssystem Qero

Um die vernünftige Nutzung ihres Gemeineigentums zu fördern, führte die Gruppe der Eigentümer das indigene Qero-System ein. Dafür bestimmten die Mitglieder der Gruppen aus beiden Gebieten je eine Führungsperson (»Abba Qera« oder »Afero«), die die Nutzung des jeweiligen Gebiets schützen und regulieren sollte. Diese Abba Qeras wurden meist einstimmig in Anwesenheit aller Nutzer gewählt. Je nach Leistung waren manche wenige Jahre, andere ihr Leben lang im Amt.

Die Nutzungsgemeinschaften in Guassa waren noch einmal in Gemeinden (»parishes«) unterteilt – sechs in Asbo und acht in Gera –, wobei es in jeder Gemeinde einen Vorsteher gab, der dem jeweiligen Abba Qera unterstand. Diese Aufteilung in Gemeinden verlieh dem Land geweihten Status, da die Gemeinden dem Protektorat der in Äthiopien seit Langem etablierten orthodoxen christlichen Kirche unterstanden.

Unter dem Qero-System konnte das Grasland von Guassa jeglicher Art von Nutzung entzogen werden, und zwar für drei bis fünf Jahre hintereinander. Die konkrete Dauer hing hauptsächlich vom Wachstum des Guassa-Grases sowie von den Bedürfnissen der Gemeinschaften ab. So konnte eine erfolgreiche Ernte zu einer längeren Sperrung des Landes führen, während eine Dürre den Abba Qera möglicherweise überzeugen konnte, die Dauer derselben zu verkürzen. Sobald die beiden Abba Qera sich einig waren, dass das Guassa-Gras erntereif war, gaben sie den rechtmäßigen Besitzerinnen und Besitzern der Nutzungsgemeinschaft das Datum der Öffnung bekannt. Üblicherweise geschah dies bei kirchlichen Feierlichkeiten, auf Märkten, bei Beerdigungen oder anderen öffentlichen Anlässsen, in der Regel mitten in der Trockenperiode des jeweiligen Jahres, meist im Februar. Nach der Ernte grasten die Nutztiere. Kurz vor der Regenzeit bereitete sich die Gemeinschaft dann darauf vor, das Land wieder zu verlassen. Das Datum der Sperrung wurde auf den 12. Juli (»Hamle Abo«) gelegt, den »Tag des Fastenbrechens des Apostels«, dem nach der Fastenzeit vor Ostern zweitwichtigsten Fasten in der äthiopischen koptisch-orthodoxen Kirche.

Im Qero-System gab es also Regeln und Verordnungen zum Schutz des Gebietes, die durch die Zusammenarbeit der gesamten Gemeinschaft unter der Leitung der beiden Abba Qeras umgesetzt wurden. Die Abba Qeras legten häufig Termine fest, an denen sie ihre jeweiligen Gebiete besuchen und kontrollieren konnten. Daran musste sich jeder Haushaltsvorstand beteiligen, der dazu in der Lage war. Die Nichtteilnahme konnte hart bestraft werden, in Extremfällen sogar durch Niederbrennen des Hauses.2 Die Frauen mussten in dieser Zeit in der Nähe der bäuerlichen Siedlung arbeiten. Wenn sie versuchten, mit anderen Männern zum Guassa-Gebiet zu gehen, galt das als ungebührlich. Das damalige Qero-System gemeinsamer Ressourcenbewirtschaftung war eine Domäne der Männer.

Auch die Regeln zur Nutzung des Guassa-Gebiets während der Schonzeit waren mitunter drakonisch. Wenn jemand während dieser Zeit im Guassa-Gebiet Gras erntete oder sein Vieh zur Weide trieb, bestand die Strafe etwa in der Beibringung von 100 Säcken Kohlsamen, einem Sklaven mit nur einem Hoden, einem nassen Löwenfell oder einem anderen Gegenstand, den es in Menz oder anderswo schlicht und einfach nicht gibt! Man konnte sogar das Astme-Irst-Recht auf Landbesitz verlieren und gezwungen werden, Menz für immer zu verlassen. Die Ältesten erklärten das so: Die Tatsache, dass die zu begleichenden Strafen nicht erhältlich waren, hielt Menschen davon ab, die Regeln zu brechen. Zudem wollte niemand sein Geburtsrecht auf die Nutzung des Graslandes – die drakonischste aller Strafen – verwirken.3

Im Laufe der Zeit wurden die Strafen jedoch abgemildert, da das moderne Recht und die Rechte des Einzelnen während der Herrschaft des Königs Haile Selassie zu gesellschaftlichen Normen wurden. Wenn jemand beispielsweise im Guassa-Gebiet Gras erntete, war die übliche Strafe eine schwere Tracht Prügel. Wenn jemand sein Dach mit Festuca-Gras deckte, das während der Schonzeit geerntet wurde, wurde das Haus niedergebrannt. Wenn Nutztiere grasten, wurden sie geschlachtet und ihr Fell der Kirchengemeinde gegeben, um eine Trommel zu bauen. Die schweren Sanktionen im Qero-System verweisen auch darauf, wie wichtig die gemeinsame Ressource als Existenzgrundlage der Gemeinschaft und damit der Einzelnen war.

Das Qero-System im Wandel

Ein Jahr nach der sozialistischen Revolution von 1974 rief die damalige äthiopische Regierung die Agrarreform aus. Sämtliches Land in Privat- oder Gemeinschaftsbesitz wurde staatliches beziehungsweise öffentliches Grundeigentum. Damit war, formal gesehen, das Qero-System in Menz Geschichte. Diese Veränderung im Eigentumsregime – von gemeinschaftlichem in öffentliches Eigentum – setzte der Regelmäßigkeit des Qero-Systems ein Ende. Plötzlich funktionierte die Ressourcenbewirtschaftung, auf die sich alle rechtmäßigen Besitzerinnen und Besitzer gemeinsam verlassen hatten, weder zuverlässig noch vollumfänglich. Anders gesagt: Mit der staatlichen Eigentümerschaft waren nicht nur neue Eigentumsrechte für die Landnutzung eingeführt worden, sondern auch weniger nachhaltige und sozial ungerechtere Landnutzungspraktiken. Die unter dem Qero-System Verantwortlichen wurden durch neun Bauernverbände aus an Guassa angrenzenden Regionen ersetzt. Ein Interviewpartner eines dieser Verbände sagte mir: »Die Leute, die wir früher aus der Guassa-Bewirtschaftung ausgeschlossen haben, wurden über Nacht zu Eigentümern des Gebietes, und dann versuchten alle, sich ihren Teil der Ressource unter den Nagel zu reißen« (Tefera Ashenafi/Leader-Williams o.J.). Das staatliche System erwies sich als die bürokratischere, korruptere und weniger effektive Bewirtschaftungsform. De facto verwandelte sich Guassa in ein Open-Access-Regime.

Doch Commons-Systeme haben nicht selten ein beachtliches Vermögen, sich an plötzliche Veränderungen und Schocks anzupassen – es ist der Kern ihrer Resilienz. Das war auch beim Qero-System der Fall. Nachdem es vom Staat abgeschafft worden war, entschieden die Kleinbauernverbände in Menz, ein anderes indigenes Bewirtschaftungssystem, das Guassa Conservation Council Committee (Komitee des Guassa-Naturschutzrats), aufzubauen, mit einer neuen Grundordnung, die mit der soziopolitischen Ordnung des Landes im Einklang steht. Dieses neue System besteht aus neun Verbänden von Kleinbäuerinnen und Kleinbauern (»Kebeles«), die jeweils fünf Vertreterinnen und Vertreter wählen, allesamt Nachkommen von Gera und Asbo. Zu den fünf Mitgliedern des Komitees gehören der oder die Vorsitzende der Kebele, ein Ältester oder eine Älteste, eine religiöse Führungspersönlichkeit, eine Vertreterin der Frauen und ein Vertreter oder eine Vertreterin der Jugend. Unter dem neuen System sind Frauen zum ersten Mal an der Bewirtschaftung des Guassa-Gebiets beteiligt. Es regelt heute dessen Nutzung durch etwa 9.000 Haushalte. Dabei koordiniert das Komitee zwanzig sogenannte »community scouts«, und es kooperiert mit der örtlichen Polizei, um jene Personen zu belangen, die Guassa in unerlaubter Weise nutzen. Zugleich wird das »Idir«-System vom Komitee unterstützt. Das ist eine allgemein respektierte, indigene soziale Institution, die Mitgliedern in schwierigen Zeiten über die Runden hilft. Und die Strafen des alten Qero-System sind milder geworden. 100 Birr – etwa fünf US-Dollar – sind heute für unerlaubte Grasernte fällig. Schwere Vergehen, etwa das Pflügen von Grassavannen, werden jedoch vor das Bezirksgericht gebracht.

Dank einem politischen Kurswechsel der äthiopischen Regierung im Jahr 2012 wurde das Recht der Guassa-Gemeinschaften, ihre lebensnotwendigen Grassavannen und die Biodiversität zu schützen, gesetzlich gestärkt und anerkannt.4 Das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP) hat die Guassa-Gemeinschaft 2004 mit dem angesehenen Äquatorpreis ausgezeichnet, und die Naturschutzpraktiken der Gemeinschaft präsentieren die Zoologische Gesellschaft Frankfurt und andere Naturschutzinitiativen in Äthiopien als Modell (UNDP 2012). Im Jahr 2013 erhielt die Guassa-Gemeinschaft den ersten Mountain Protection Award der International Mountain Protection Commission (UIAA).5

Anmerkung der Herausgeber: Nach Fertigstellung des Beitrages erfuhren wir, dass die Guassa Menz Community Conservation Area nationaler Preisträger des Energy Globe Award der UNESCO 2015 geworden ist.

Literatur

Tefera Ashenafi, Z. und N. Leader-Williams (o.J.): »The Resilient Nature of Common Property Resource Management Systems: A Case Study from the Guassa Area of Menz, Ethiopia«, http://dlc.dlib.indiana.edu/dlc/bitstream/handle/10535/1953/AshenafiZelealamCPR.pdf?sequence=1 (Zugriff am 31. März 2015).

United Nations Development Programme (UNDP) (2012): Guassa-Menz Community Conservation Area, Ethiopia, Equator Initiative Case Study Series, New York.

Zelealem T. Ashenafi promovierte am Durrell Institute of Conservation and Ecology (DICE) der Universität Kent, Großbritannien, und leitete das Programm zum Schutz des äthiopischen Wolfes der Universität Oxford. Heute ist er Landesverantwortlicher für Äthiopien der Zoologischen Gesellschaft Frankfurt. Er arbeitet zu den Themen Umweltmonitoring, gemeinschaftsbasierter Naturschutz, Tourismus und ländliche Entwicklung.

1 | Weitere Informationen zu Atsme Irist in Menz finden sich in der Dissertation des Autors: »Common Property Resource Management of an Afro-Alpine Habitat Supporting a Population of the Critically Endangered Ethiopian Wolf (Canis Simensis)«, University of Kent, Canterbury, Großbritannien.

2 | Es gibt keine belegten Angaben darüber, wie häufig dies tatsächlich geschehen ist (Anm. der Hg.).

3 | Diese Erklärung entspricht Ergebnissen der Commons-Forschung, die besagt, dass oft die schiere Existenz von Sanktionen, mit denen sich die Nutzergemeinschaft einverstanden erklärt hat, genügt, um Regelübertretungen zu verhindern.

4 | Vergleiche das siebte Design-Prinzip für langlebige Commons-Institutionen von Elinor Ostrom: »Es ist ein Mindestmaß staatlicher Anerkennung des Rechtes der Nutzer erforderlich, ihre eigenen Regeln zu bestimmen« (Anm. der Hg.).

5 | Siehe: http://mountainprotection.theuiaa.org/awards/2013#.UyxdZUudTOc (Zugriff am 15. Januar 2015).