Feuer und Frost
Museen, Büchereien, Archive und ihre Zukunft als Commons
Meistens war es eine kleine Meldung in der Zeitung, allerdings nicht auf der ersten Seite. Oder, wenn der Brand groß genug war und ein Kamerateam schnell genug vor Ort war, eine Story in den Abendnachrichten. Es scheint, dass Wohnhausbrände in meiner Jugend häufiger vorkamen, und die Geschichte war oft dieselbe: »Als sie sich aus ihrem brennenden Haus retteten«, sagte der Nachrichtensprecher, »hielten sie inne, um ein einziges geliebtes Stück in Sicherheit zu bringen …« Und es handelte sich immer um etwas Sentimentales – nicht Schmuck oder Bargeld, sondern ein Familienfoto, eine Kinderzeichnung, ein Brief, eine Haarlocke. In jedem Fall Nebensächliches – und dennoch so lieb und teuer wie das Leben selbst.
Museen sind einfache Orte. Das gilt auch für Bibliotheken und Archive. Sammeln, bewahren, beleuchten. Ewig wiederholen. Wir denken nicht über sie nach, bis der Rauch aufsteigt, aber dann ist es meistens zu spät.
Als Hitler 1944 die Zerstörung Warschaus anordnete, versuchte die Armee, die Nationalbibliothek, die Biblioteka Narodawa, in Brand zu stecken, aber das Feuer schwelte bloß.1 Tatsächlich ist das gesammelte Gedächtnis einer Zivilisation überraschend dicht und schwierig zu verbrennen. Deswegen wurde ein spezielles Team von Ingenieuren herangezogen, um Löcher in das Dach und die Wände zu schneiden, sodass das Feuer mehr Luft und Zug kriegen würde. Problem gelöst. Museen, Bibliotheken und Archive sind einfache Orte, aber wenn sie erst einmal Feuer gefangen haben, dann brennen sie wie die Hölle.
Manchmal erstarren sie jedoch, denn die eisige Kälte der Ignoranz und der Vernachlässigung kann so tödlich sein wie die Flammen einer Fackel. Auf dem Regal eines Museums, in einem Glas konserviert, stand das letzte und einzige Exemplar des Kleinen Samoa-Flughundes, Pteropus allenorum, 153 Jahre lang, bis es endlich untersucht und als neue Art identifiziert wurde – die jedoch bis dahin ausgestorben war.2 Der Gelbstirn-Waldsänger, »wegen seines ungewöhnlich lebhaften Gesanges berühmt«, wurde 1939 ausgerottet, als Vogelliebhaber die letzten beiden Exemplare fanden und voller Stolz erschossen (Bryson, 2004: 600).
Ein Viertel der Amerikaner glaubt nicht an den Klimawandel,3 fast die Hälfte glaubt nicht an die Evolution,4 ein Drittel kennt die eigenen unmittelbaren Nachbarn nicht5 und während der Rest der Welt nach größerem Zugang zu Wissen und Bildung schreit, hat Großbritannien Hunderte städtischer Büchereien geschlossen. »Bibliotheken, die während des Blitzkrieges offen geblieben sind, werden aufgrund von Budgetkürzungen geschlossen«, schrieb Caitlin Moran, »eine Billion kleiner Türen geht zu.«6 Entgangene Chancen töten, genau wie Rauch und Flammen, aber schwieriger zu erkennen.
Feuer und Frost – Unkenntnis der Wissenschaft, Vernachlässigung unserer physischen Umwelt und Versäumnisse in der Ausbildung des Potenzials der Menschen – können wir uns nicht mehr leisten – es steht zu viel auf dem Spiel. Es handelt sich um einen gefährlichen Großbrand und wir brauchen alle Mann an den Pumpen.
Hunderte, wenn nicht Tausende Jahre lang haben wir Museen, Bibliotheken und Archive in unseren Städten und Gemeinden gebaut und unterhalten, um dieses Ziel um unseres eigenen Überlebens willen zu befördern: die Schaffung von Wissen und Kreativität anzukurbeln, Lernen und unabhängiges Denken zu fördern, bürgerschaftliches Engagement und Dialog zu unterstützen, emotionale Intelligenz und Wohlbefinden zu begünstigen und unser Wissen über die Vergangenheit zu vertiefen und unsere Pläne für die Zukunft zu klären. Wir brauchen Museen, Bibliotheken und Archive, um diese Aufgaben in enormem Maßstab zu leisten – wir könnten dabei gar nicht von »zu viel Erfolg« sprechen; aber insgesamt betrachtet sind unsere Institutionen in ihrer überkommenen Arbeitsweise ein bemerkenswert stumpfes Instrument, um Aufklärung zu verbreiten. Jedem Menschen, der die Türen eines Museums passiert, stehen Milliarden gegenüber, die das nicht tun können oder wollen; jedem Gegenstand, der katalogisiert wird und den Besuchern von Bibliotheken und Archiven zur Verfügung steht, stehen Millionen gegenüber, die fehlen oder vorenthalten werden; Sammlungen, die seit Jahrhunderten öffentlich zugänglich waren, werden durch Paywalls und unnötige Einschränkungen eingehegt;7 und das Expertenwissen und die Leidenschaft der Öffentlichkeit bleibt schlummernd versteckt und unsichtbar. Warum?
Das Problem, so stellt es sich heraus, ist kein Konflikt zwischen unterschiedlichen Werten, sondern zwischen Gewohnheiten: Alte Vorstellungen von Umfang und Maßstab des Wirkungsbereichs – wer hat eine Stimme, wer macht die Arbeit, und wer profitiert davon – lassen sich nur schwer überwinden. Wie die meisten Organisationen haben Museen, Bibliotheken und Archive ihre Träume während des 20. Jahrhunderts geschmiedet, als Erfolg bedeutete, beeindruckende Gebäude voller Experten, große Sammlungen und hohe Besucherzahlen vorzuweisen. Das war die Realität, es gab noch kein Internet, und irgendein anderes Maß für herausragende Arbeit war kaum vorstellbar. Und in diesem Kontext erscheint das Konzept eines Commons pervers und merkwürdig: Welches Museum in der real gebauten Welt, das auf sich hält, würde seine Privilegien und seine Autorität mit der Masse teilen, und wer außer Barbaren würde sie überhaupt annehmen? Welche verantwortungsbewusste Institution würde auf die Kontrolle über ihre Daten verzichten und Milliarden Menschen zur Mitarbeit einladen oder Sammlungen vom Urheberrecht befreien und die Hoffnung begraben, aus Lizenzen und Gebühren Profit zu schlagen?
Aber sogar bereits 1853 haben Menschen wie Joseph Henry, der erste Direktor der Smithsonian Institution (heute der größte Museums- und Forschungskomplex der Welt, mit Sitz in Washington, DC),8 erkannt, dass Museen, Bibliotheken und Archive große Taten für die Gesellschaft vollbringen könnten – und zwar nicht, indem sie nur nach innen auf ihre eigenen Experten und Sammlungen blickten, sondern auch nach außen, zur Vorstellungskraft und Energie von Bürgerinnen und Bürgern. »Der Wert und die Bedeutung der [Smithsonian] Institution ist nicht, daran gemessen zu werden, was sie innerhalb der Wände des Gebäudes ansammelt«, schrieb Henry im ersten Jahresbericht des Smithsonian, »sondern daran, was es in die Welt hinausschickt«.9
Das ist eine großartige Geisteshaltung – es hat uns bis heute nur an den Möglichkeiten gemangelt, sie in vollem Umfang Wirklichkeit werden zu lassen. Der Schlüssel ist freier, uneingeschränkter digitaler Zugang, und die Kreativität und das Handeln von Bürgerinnen und Bürgern – Commoning, wie es in diesem Buch genannt wird – sind die Kraft, die ihn im Schloss herumdreht.
Die New York Public Library hat kürzlich 20.000 lizenzfreie Landkarten in hoher Auflösung online gestellt. Was das heißt, erklärt Matt Knutzen von der Landkartenabteilung der Bibliothek: »Es bedeutet, dass du die Landkarten – wenn du willst, alle – kostenlos haben kannst, in hoher Auflösung. Wir haben sie gescannt, sodass so viele Menschen wie möglich sie benutzen können, und zwar so umfassend wie möglich.10
Das Rijksmuseum in Amsterdam besitzt einige der wertvollsten Meisterwerke der westlichen Kunst, aber anstatt sie zu horten, schenkt das Museum sie der Welt. Das Rijksmuseum hat auf seiner Webseite mehr als 150.000 lizenzfreie Reproduktionen von Kunstwerken in hoher Auflösung; und durch sein innovatives Rijksstudio-Projekt11 und der entsprechenden Programmierschnittstelle fördert das Museum die Wiedernutzung dieser Ressourcen und unterstreicht den Wert dieser Nutzung. »Wir sind eine öffentliche Institution«, sagt Taco Dibbits, Direktor der Sammlungen des Rijksmuseums, »und deshalb sind die Kunstwerke und Objekte, die wir haben, in gewisser Weise das Eigentum von allen.«12
88 Institutionen aus 16 Ländern haben 1,3 Millionen Bilder zu The Flickr Commons beigesteuert, einem fortlaufenden Projekt, das den Zugang zu und die Interaktion mit öffentlichen Fotografiesammlungen in der ganzen Welt fördern soll. Alle Bilder in The Flickr Commons werden mit »keine[n] bekannten Urheberrechtsbeschränkungen« angeboten und können von jedermann für jegliche Zwecke verwendet werden.13
Europeana, eine Initiative der Europäischen Kommission zur Förderung des Zugangs zu kulturellen Ressourcen, bietet einen einzigen Zugangspunkt zu mehr als 3,9 Millionen lizenzfreien Büchern, Kunstwerken und anderen Gegenständen in Museen, Bibliotheken und Archiven aus fast 400 Speicherorganisationen. »Da sie mit der Erhaltung unseres gemeinsamen Wissensbestands und unserer Kultur betraut sind, sollten gemeinnützige Speicherorganisationen eine besondere Rolle bei der effizienten Kennzeichnung und der Erhaltung von Werken des Gemeinguts übernehmen.« So steht es in der »Europeana Charta zum Gemeingut«. »In dieser Rolle sollten sie dafür sorgen, dass Werke des Gemeinguts der gesamten Gesellschaft zugänglich sind, indem sie diese Werke für eine möglichst breite Öffentlichkeit bereitstellen.«14
Und die Wikimedia Commons,15 eine Datenbank mit weit über 25 Millionen frei verwendbaren Mediendateien, »zu denen jedermann beitragen kann«, ist womöglich die beste, am häufigsten gebrauchte und produktivste kulturelle Commons der Welt, trotz der Tatsache – oder vielleicht wegen der Tatsache –, dass sie nicht von an Traditionen gebundene Institutionen betrieben wird, sondern von Freiwilligen, die dazu inspiriert und befähigt sind, durch ihre eigenen Anstrengungen zu handeln und Werte zu schaffen. Die Wikimedia Commons stellt Bilder und andere Medienressourcen für die über 32 Millionen Wikipedia-Artikel bereit, und obwohl eine steigende Zahl davon von Museen, Bibliotheken und Archiven beigesteuert werden, werden viel mehr von einzelnen Bürgerinnen und Bürgern eingestellt – Commoner und Aktivisten –, die das Internet nach relevanten Bildern und Quellen durchsuchen, Seiten aus Büchern scannen, gemeinsame Projekte organisieren und durchführen und sogar Fotografien von ihren eigenen Besuchen in Museen und Kulturstätten hochladen, um die Qualität und Bandbreite von Wikipedia-Artikeln zu verbessern.
Wegen seiner Basis aus freien und offenen Ressourcen und seines Freiwilligennetzwerks arbeitet Wikimedia Commons eindrucksvoll weltumspannend und überwindet dabei professionelle, institutionelle und nationale Grenzen, um mehr als 500 Millionen Wikipedia-Lesern pro Monat in 280 Sprachen zur Verfügung zu stehen.16 Sogar die größten Museen, Bibliotheken und Archive können nicht auf einen solchen Wirkungsbereich hoffen – vor allem nicht, wenn sie an überkommenen Methoden und Maßnahmen festhalten.
Die Arbeit der Kulturinstitutionen dieser Welt ist von großer Tragweite, denn aufgeklärte und engagierte Bürgerinnen und Bürger sind unsere größte Chance, die Flammen der Angst und des Hasses zu löschen und die bittere Kälte von Ignoranz und Gleichgültigkeit zu vertreiben. Es gibt Feuer und Frost, und beides zwingt uns umgehend zu handeln: Was sollen die Aufgaben unserer Museen, Bibliotheken und Archive sein? Was können sie tun, um stärker und umfassender in die Gesellschaft zu wirken?
Commons weisen den Weg.
Literatur
Bryson, B. (2004): Eine kurze Geschichte von fast allem, München, Wilhelm Goldmann Verlag.
1 | Informationen des Bibliotheksdirektors vom Oktober 2011.
2 | »›New‹ species gather dust on museum shelves for 21 years before being described«, in: Discover Magazine, 19. November 2012. Vielen Dank an Dr. Elycia Wallis des Museum Victoria für diese Geschichte.
3 | Americans’ Global Warming Beliefs and Attitudes in April 2013, http://environment.yale.edu/climate-communication/article/Climate-Beliefs-April-2013#sthash.SfADnW8K.dpuf (Zugriff am 1. November 2014).
4 | Gallup: »In U.S., 46 Prozent Hold Creationist View of Human Origins«, 1. Juni 2012, www.gallup.com/poll/155003/Hold-Creationist-View-Human-Origins.aspx (Zugriff am 1. November 2014).
5 | PewResearch Internet Project, in: Neighbors Online, 9. Juni 2010, www.pewinternet.org/2010/06/09/neighbors-online/ (Zugriff am 1. November 2014).
6 | Moran, C.: »Libraries, Cathedrals of our Souls«, in: Huffingtonpost, 11. November 2012.
7 | Sanderhoff, M.: »Common Challenges, Common Solutions«, in: Folie 26, 20. September 2012, www.slideshare.net/MereteSanderhoff/common-challenges-common-solutions-okfest-20092012 (Zugriff am 1. November 2014).
8 | Siehe: www.si.edu (Zugriff am 28. Juli 2014).
9 | Annual Report of the Board of Regents of the Smithsonian Institution for the Year 1852, Washington, DC: US Government Printing Office, 1853, via http://siarchives.si.edu/history/exhibits/henry/joseph-henrys-life#c1 (Zugriff am 1. November 2014).
10 | Knutzen, M.: »Open access maps at NYPL«, 28. März 2014, www.nypl.org/blog/2014/03/28/open-access-maps (Zugriff am 21. November 2014).
11 | Siehe: https://www.rijksmuseum.nl/en und www.rijksmuseum.nl/en/rijksstudio (Zugriff am 21. Juli 2014).
12 | Dibbits, T.: »Masterworks for one and all«, New York Times, 29. Mai 2014, www.nytimes.com/2013/05/29/arts/design/museums-mull-public-use-of-online-art-images.html (Zugriff am 21. Juli 2014).
13 | Vgl. https://www.flickr.com/commons (Zugriff am 21. Juli 2014). Vielen Dank an James Morley für sein Flickr-Commons-Statistik-Tool zur Zählung der Bilder.
14 | Siehe: http://europeana.eu. Vielen Dank an James Morley und Christoph Braun für ihre Unterstützung bei der Zählung. Europeana Public Domain Charter, 2010, http://pro.europeana.eu/c/document_library/get_file?uuid=d542819d-d169-4240-9247-f96749113eaa&groupId=10602, (für beide: Zugriff am 21. Juli 2014).
15 | Siehe: http://commons.wikimedia.org/wiki/Main_Page (Zugriff am 21. Juli 2014).
16 | Die Zahl 32 Millionen Artikel bezieht sich auf Juni 2014, http://stats.wikimedia.org/EN/TablesWikipediaZZ.htm. Die Nutzungsstatistiken stammen aus dem Jahresbericht der Wikimedia Foundation 2013-2014, http://wikimediafoundation.org/wiki/Annual_Report (Zugriff am 05. Juni 2015).