Commons größer denken
Als Evolutionsbiologe – ich wurde 1975 promoviert – bin ich mit Garrett Hardins 1968 in der Zeitschrift Science veröffentlichtem Essay »The Tragedy of the Commons« (»Die Tragik der Allmende«) groß geworden. Seine Parabel über die Dorfbevölkerung, die zu viele Kühe auf der gemeinsamen Weide grasen ließ, erfasste den Kern des Problems, das ich mit meiner Forschung lösen wollte. Wer eine zusätzliche Kuh dorthin trieb, so Hardin, erzielte gegenüber den anderen im Dorf einen Vorteil, doch da dies fortan alle tun, führte dieses Verhalten zur Überweidung. Die Welt der Tiere und Pflanzen ist voll von ähnlichen Beispielen, in denen jene, die sich zugunsten ihrer Gruppe verhalten, im Existenzkampf gegen eigennützigere Individuen unterliegen, was Ressourcenübernutzung und andere Tragödien zur Folge hat.
Wird in der »biologischen Welt« diese sogenannte »Tragik der Allmende«1 jemals vermieden, und wenn ja, auf welche möglichen Lösungen für unsere eigene Spezies weist dies hin? Ein plausibles Szenario ist die natürliche Selektion auf der Ebene von Gruppen. Ein eigennütziger Landwirt könnte einen Vorteil gegenüber den anderen Landwirten im Dorf haben, doch ein Dorf, das – in welcher Weise auch immer – die »Tragik der Allmende« auflöste, hätte einen entscheidenden Vorteil gegenüber anderen Dörfern.2 Die meisten Arten sind auf verschiedenen Ebenen in lokale Populationen unterteilt, so wie Menschen in Dörfern, Städten und Nationen organisiert sind. Wenn die natürliche Auslese zwischen Gruppen (die Kooperation fördern) zur natürlichen Auslese innerhalb von Gruppen (die nicht Kooperation fördern) ein Gegengewicht bieten kann, dann kann die »Tragik der Allmende« für Menschen wie für nicht-menschliche Spezies abgewendet werden.
Zu der Zeit, als Hardin seinen Artikel publizierte und ich an meiner Dissertation arbeitete, war diese Möglichkeit geprüft und weitgehend verworfen worden. Das 1966 veröffentlichte Buch Adaptation and Natural Selection (»Anpassung und natürliche Selektion«) des Evolutionsbiologen George C. Williams war dabei, ein moderner Klassiker zu werden. Williams beschrieb die Selektion zwischen verschiedenen Gruppen zwar als theoretisch möglich, doch sie sei im Vergleich zur Selektion innerhalb von Gruppen fast ausnahmslos schwach. Ihm zufolge waren Bemühungen, Anpassungen jeglicher Art als »zum Wohle der Gruppe« zu interpretieren, Ausdruck von Nachlässigkeit und Wunschdenken. Hardins Artikel zeigte denselben Pessimismus hinsichtlich der Vermeidbarkeit der »Tragik der Allmende« und hielt Regulierung »von oben nach unten« für die einzige Lösung. Da ich die Plausibilität der Gruppenselektion neu durchdenken wollte, fand ich mich in einer sehr kleinen Gruppe von Häretikerinnen und Häretikern wieder.3
Die individualistische Wende in der Evolutionstheorie fiel zeitlich mit der individualistischen Wende in anderen Wissensgebieten zusammen. Die Wirtschaftswissenschaft der Nachkriegszeit war von der Rational-Choice-Theorie geprägt, in der das Eigeninteresse des Individuums als übergreifendes Erklärungsprinzip gilt; sie dominierte die Wirtschaftswissenschaft der 1960er Jahre und der folgenden Jahrzehnte. In den Sozialwissenschaften war eine als »methodologischer Individualismus« bekannte Einstellung vorherrschend, der zufolge sämtliche sozialen Phänomene zu Phänomenen auf individueller Ebene reduziert werden konnten, so als seien Gruppen nicht ihrerseits legitime Einheiten, die der Analyse wert wären (Campbell 1990). Und die britische Premierministerin Margaret Thatcher wurde berühmt-berüchtigt, als sie 1987 in einer Ansprache sagte: »Die Gesellschaft existiert nicht, nur Individuen und Familien.« Es schien, als sei die gesamte Kultur individualistisch geworden, und als seien die wissenschaftlichen Theorien nachgezogen.
Was ich damals nicht wusste: Eine weitere Häretikerin namens Elinor Ostrom forderte in ihrer Disziplin, der Politikwissenschaft, herkömmliche Überzeugungen heraus. Von den Untersuchungen zu ihrer Doktorarbeit darüber, wie eine Gruppe von Anliegern und Betroffenen im Süden Kaliforniens ein System zur Bewirtschaftung ihres Grundwassers entwickelte, bis zu ihrer weltweiten Forschung zu Gruppen, die unterschiedliche, gemeinsam genutzte Ressourcen bewirtschafteten, war die Botschaft ihrer Arbeit, dass Gruppen in der Lage sind, die Tragik der Allmende zu vermeiden, ohne Regulierung »von oben nach unten«, jedenfalls wenn bestimmte Bedingungen erfüllt sind (Ostrom 1990, 2010). Sie fasste die Bedingungen in Form von acht grundlegenden »Design-Prinzipien« zusammen: 1) klar definierte Grenzen; 2) Verhältnismäßigkeit zwischen Nutzen und Kosten; 3) Arrangements für kollektive Entscheidungsfindung; 4) Überwachung; 5) abgestufte Sanktionen; 6) zügige und faire Konfliktlösung; 7) lokale Autonomie; 8) angemessene Beziehungen zu anderen regelsetzenden Entitäten (polyzentrische Governance). Diese Arbeit war derart bahnbrechend, dass Ostrom 2009 mit dem Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften ausgezeichnet wurde.
Ich lernte Lin (wie sie gern genannt wurde) wenige Monate vor der Auszeichnung bei einem Workshop in Florenz mit dem Titel »Entwickeln Institutionen sich weiter?« kennen (in Wilson 2011a wird davon berichtet). Ähnliche Veranstaltungen fanden 2009 auf der ganzen Welt statt, um Darwins 200. Geburtstag und 150 Jahre des Erscheinens von Die Entstehung der Arten zu feiern. Besonders hinsichtlich der kulturellen Evolution des Menschen war die Mehrebenen-Selektionstheorie – und ihre Vorstellung, dass natürliche Selektion auf verschiedenen Ebenen stattfindet und es auf jeder Ebene eigene Hierarchien gibt – breiter angenommen worden, weswegen ich häufig als Redner angefragt wurde. Ich hatte außerdem einen Think-Tank namens Evolution Institute4 mit gegründet, der aus evolutionärer Perspektive Vorschläge für die Politik formuliert, und hatte daher ein starkes Interesse am Workshop-Thema. Lins Arbeiten waren mir zwar einigermaßen geläufig, aber die Gelegenheit, mich vertieft mit ihr zu unterhalten, hat etwas verändert. Mir wurde schnell deutlich, dass ihr Ansatz der grundlegenden Design-Prinzipien mit der Mehrebenen-Selektionstheorie gut zusammenpasste. Ihr Ansatz ist besonders für das Konzept großer evolutionärer Wandlungen relevant, nach dem Gruppenmitglieder derart kooperativ werden, dass die Gruppe als solche zu einem übergeordneten Organismus wird. Die Zellbiologin Lynn Margulis (1970) hat diesen Gedanken als erste vorgebracht, um zu erklären, wie kernhaltige Zellen sich aus symbiotischen Ansammlungen von Bakterien entwickeln. Der Gedanke wurde in den 1990er Jahren verallgemeinert, um andere weitreichende Transformationen, etwa das Aufkommen der ersten bakteriellen Zellen, vielzelliger Organismen, eusozialer Insektenkolonien sowie die menschliche Evolution zu erklären (Maynard Smith und Szathmary 1995, 1999).
Jäger- und Sammler-Gesellschaften sind dafür bekannt, dass sie egalitär sind, und nicht deswegen, weil alle nett zueinander sind, sondern weil Gruppenmitglieder gemeinsam in der Lage sind, Mobbing und selbstherrliches Verhalten innerhalb der Gruppe zu unterdrücken – was das kennzeichnende Kriterium eines großen evolutionären Wandels ist (Boehm 1993, 1999, 2011). Weil zerstörerischer Wettbewerb innerhalb von Gruppen großenteils in Schach gehalten werden konnte, wurde der Erfolg als Gruppe die wichtigste Kraft der Selektion in der menschlichen Evolution. Das gesamte Paket an spezifisch menschlichen Eigenschaften – einschließlich unserer Fähigkeiten, in Gruppen nicht-verwandter Individuen zu kooperieren, gelernte Informationen über Generationen hinweg zu vermitteln und Sprache sowie andere Formen symbolischen Denkens zu entwickeln – können als Formen physischer und geistiger Zusammenarbeit betrachtet werden, die ein großer evolutionärer Wandel ermöglicht hat.
Ostroms Design-Prinzipien (DP) waren offensichtlich Teil einer »großen evolutionären Wende«. »Klar definierte Grenzen« (DP1) bedeutet, dass Mitglieder wissen, dass sie Teil einer Gruppe sind, und was der Zweck dieser Gruppe ist (z.B. Fischerinnen und Fischer mit Zugang zu einer Bucht oder Bäuerinnen und Bauern, die ein Bewässerungssystem bewirtschaften). »Verhältnismäßigkeit zwischen Nutzen und Kosten« (DP2) bedeutet, dass Mitglieder sich den Nutzen erarbeiten müssen und sich ihn nicht einfach aneignen können. »Arrangements für kollektive Entscheidungsfindung« (DP3) bedeutet, dass Gruppenmitglieder sich auf Entscheidungen einigen müssen, sodass niemand herumkommandiert werden kann. »Überwachung« (DP4) und »abgestufte Sanktionen« (DP5) bedeuten, dass störende, eigennützige Verhaltensweisen erkannt und sanktioniert werden können. »Zügige und faire Konfliktlösung« (DP6) bedeutet, dass die Gruppe nicht durch interne Interessenkonflikte auseinandergerissen werden darf. »Lokale Autonomie« (DP7) bedeutet, dass die Gruppe den Spielraum hat, sich um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern zu können. »Angemessene Beziehungen zu anderen regelsetzenden Entitäten« (DP8) bedeutet, dass all jene Elemente, die zur Regulierung innerhalb einer Gruppe gebraucht werden, bei mehreren, unterschiedlichen Gruppen auch zur Regulierung zwischen diesen gebraucht werden.
Die Übereinstimmung zwischen Ostroms Ansatz der grundlegenden Design-Prinzipien einerseits und der Mehrebenen-Selektionstheorie andererseits hatte drei große Konsequenzen.
Erstens stellte sie den Ansatz der Design-Prinzipien auf ein allgemeineres theoretisches Fundament. Ihr Rahmenkonzept der »institutionellen Analyse und Entwicklung« stammte aus der Politikwissenschaft, und sie wandte frühzeitig die wirtschaftswissenschaftliche Spieltheorie an, aber ihr wichtigstes Argument für die Design-Prinzipien war ihre Datenbank mit Informationen über das Verhalten von Gruppen in der ganzen Welt, die gemeinsame Ressourcen bewirtschafteten, so wie in ihrem einflussreichsten Buch Die Verfassung der Allmende: jenseits von Staat und Markt (Ostrom 1990, dt.: 1999) beschrieben. Die Mehrebenen-Selektionstheorie zeigte nun, wie die Design-Prinzipien aus der evolutionären Dynamik der Kooperation bei allen Spezies folgen, inklusive unserer eigenen evolutionären Geschichte als in hohem Maße kooperative Spezies.
Zweitens ist es wahrscheinlich, dass der Ansatz der Design-Prinzipien aufgrund seiner theoretischen Allgemeinheit auf weitaus mehr Gruppen anwendbar ist als nur auf diejenigen, die gemeinsam genutzte Ressourcen zu bewirtschaften versuchen. Fast jede Gruppe, deren Mitglieder zusammenarbeiten müssen, um ein gemeinsames Ziel zu erreichen, wird durch eigennütziges Verhalten gefährdet und sollte von diesen Prinzipien profitieren. Eine Analyse von Gruppen in Unternehmen, Kirchen, ehrenamtlichen Vereinen und städtischen Nachbarschaften würde zu denselben Ergebnissen führen wie Ostroms Analyse von Gruppen, die gemeinsame Ressourcen bewirtschaften.
Drittens kann der Ansatz der Design-Prinzipien einen praktischen Rahmen bieten, um die Wirksamkeit von Gruppen in der realen Welt zu verbessern. Es sollte für quasi jede Gruppe möglich sein, sich selbst bezüglich der Design-Prinzipien zu bewerten, Missstände zu beheben und schließlich besser zu funktionieren. Diese Perspektive war für mich als Präsident des Evolution Institute besonders reizvoll, da ich nunmehr aktiv daran beteiligt war, aus einem evolutionären Blickwinkel Politik zu formulieren und umzusetzen.
Lin inspirierte mich, mehrere Projekte zugleich zu beginnen. Das eine war, gemeinsam mit ihr und Michael Cox einen wissenschaftlichen Artikel zu schreiben: »Generalizing the Core Design Principles for the Efficacy of Groups« (»Die Verallgemeinerung der Design-Prinzipien zur Steigerung der Wirksamkeit von Gruppen«: Wilson, Ostrom und Cox 2013), in dem die drei soeben beschriebenen Implikationen für eine akademische Leserschaft aufbereitet sind. Michael Cox war Erstautor eines Artikels aus dem Jahre 2010, in dem der Ansatz der Design-Prinzipien in der Literatur ausgewertet wurde, die seit Ostroms ursprünglicher Analyse veröffentlicht worden war (Cox et al. 2010). Damit wurde dieser Ansatz – zwanzig Jahre nach Erstveröffentlichung – einmal mehr aktualisiert sowie bestätigt.5 Außerdem begann ich, den Ansatz in Projekten anzuwenden, in denen ich mit verschiedenen Gruppen in Binghamton/New York (USA) arbeitete. Ein Projekt entstand in Zusammenarbeit mit der Stadt Binghamton und der gemeinnützigen Organisation United Way. Es hieß: »Gestaltet euren eigenen Park«. Die Leute wollten die Chance nutzen, ein vernachlässigtes Grundstück als Gemeinressource in einen Nachbarschaftspark zu verwandeln. Nachbarschaftsgruppen, die sich zu diesem Zweck gebildet hatten, sollten zu den Design-Prinzipien gecoacht werden, die ihnen schließlich helfen würden, auch andere Angelegenheiten in ihrer Nachbarschaft zu regeln. Dieses Projekt führte zur Schaffung von vier Nachbarschaftsparks – und den dazugehörigen Gruppen (Wilson 2011b).
Das zweite Projekt war eine Zusammenarbeit mit der Schulverwaltung der Stadt Binghamton, um für Risikojugendliche eine »Schule in der Schule« namens Regents Academy zu etablieren (Wilson, Kauffmann und Purdy 2011). Es war unser ambitioniertestes und am besten dokumentiertes Projekt, denn wir konnten den Goldstandard wissenschaftlicher Auswertung einsetzen: die randomisierte kontrollierte Studie. Dabei werden die Teilnehmerinnen und Teilnehmer nach dem Zufallsprinzip einer Versuchs- oder einer Kontrollgruppe zugeordnet, um signifikante Variablen zu ermitteln, die Einfluss auf die Ergebnisse haben könnten. Die Regents Academy setzte soweit möglich die acht grundlegenden und zwei zusätzliche Design-Prinzipien ein, die für Lernumgebungen relevant waren: eine entspannte und spielerische Atmosphäre sowie kurzfristige Belohnungen für langfristige Lernziele. Die Schülerinnen und Schüler in der Regents Academy haben nicht nur haushoch bessere Ergebnisse erzielt als die Vergleichsgruppe, sondern sie haben beim Regents exam, einer vorgeschriebenen Prüfung, genauso gut abgeschnitten wie der Gesamtdurchschnitt der Schülerinnen und Schüler (für Einzelheiten siehe Wilson, Kauffman und Purdy 2011). Dies lässt darauf schließen, dass der Ansatz der Design-Prinzipien über Nutzergruppen gemeinsamer Ressourcen hinaus verallgemeinert und als Reflexionsrahmen zur Entfaltung der Wirksamkeit von Gruppen in unserem Alltag genutzt werden kann.
Im dritten Projekt ging es um die Zusammenarbeit mit einigen Religionsgemeinschaften in Binghamton, um vor dem Hintergrund ihres Glaubens und ihrer sozialen Organisation über die Design-Prinzipien zu reflektieren. Diese Gespräche führten zwar nicht zur formellen und konkreten Veränderung sozialer Praktiken, doch sie waren von unschätzbarem Wert, um auszuloten, wie der Erfolg religiöser Gruppen aus Sicht des Ansatzes der Design-Prinzipien verstanden werden konnte.
Alle diese Projekte waren bestätigten weitgehend, dass die Ostrom’schen Design-Prinzipien für alle Gruppen relevant sind, in denen Menschen zusammenarbeiten, um ein gemeinsames Ziel zu erreichen. Sie zeigten außerdem, dass in manchen Gruppen, etwa in unterprivilegierten Nachbarschaften und öffentlichen Schulen, leider viele der in den Design-Prinzipien formulierten Merkmale fehlen. Dabei ist es wichtig sich zu vergegenwärtigen, dass Ostrom die Prinzipien für gemeinsam bewirtschaftete Ressourcen auch ableiten konnte, weil sie von den Nutzergruppen sehr unterschiedlich umgesetzt worden waren. Manchen gelang das sehr gut, während andere Beratung benötigt hätten.
Während meiner Kooperation mit Lin arbeitete ich zudem mit drei führenden Persönlichkeiten in den angewandten Verhaltenswissenschaften: Tony Biglan, ehemaliger Präsident der Society for Prevention Research (Gesellschaft für Prophylaxe-Forschung) mit Sitz in den USA, Steven C. Hayes, Mitgründer der Association for Contextual Behavioral Science (Gesellschaft für kontextbasierte Verhaltenswissenschaft), und Dennis Embry, ein Wissenschaftler und Unternehmer, der zu evidenzbasierten Praktiken für positive Verhaltensänderungen arbeitet. Ich war von dieser Zusammenarbeit begeistert, weil sie viel mehr Erfahrung als ich darin hatten, unter realen Bedingungen auf positive Verhaltensänderungen hinzuarbeiten. Sie wiederum fanden die Zusammenarbeit mit mir spannend, weil sie erkannten, dass die Evolutionstheorie – so wie für die Design-Prinzipien – auch für ihre Disziplinen einen allgemeineren theoretischen Rahmen liefern konnte. Diese Erfahrung unterstrich, dass jetzt wo die Evolutionstheorie in der Biologie anerkannt ist, ihre Erkenntnisse auch auf grundlegende Bereiche der menschlichen Verhaltenswissenschaften angewendet werden können. Ein Ergebnis unserer Kooperation war ein großer Artikel, »Evolving the Future: Toward a Science of Intentional Change« (»Die Zukunft entwickeln: Aufbruch zu einer Wissenschaft absichtlicher Veränderungen«), der zusammen mit Fachkommentaren und einer Erwiderung in der Fachzeitschrift Behavioral and Brain Sciences (Wilson, Hayes, Biglan und Embry 2014) publiziert wurde. Darin wurde das theoretische Fundament, das ich mit Ostrom und Cox legte, ausgeweitet. Die erste Hälfte dieses Artikels skizziert die wissenschaftlichen Grundlagen intendierten Wandels, beruhend auf der Evolutionstheorie. Die zweite Hälfte analysiert erfolgreiche positive Verhaltensänderungen und kulturelle Entwicklungen aus den angewandten Wissenschaften, die das Konzept eines klug umgesetzten und begleiteten Prozesses kulturellen Wandels illustrieren, aber jenseits ihrer Disziplinen kaum wahrgenommen worden sind. Mit diesem Artikel sind wir näher an einer Wissenschaft intentionalen Wandels, als man glauben mag.
All diese Projekte mündeten schließlich in ein ambitioniertes Projekt am Evolution Institute namens PROSOCIAL (Wilson 2014). Dort soll zunächst eine Internetplattform gestaltet werden, die jeder Gruppe irgendwo auf der Welt ermöglichen wird, sich selbst zu evaluieren und mehr bewirken zu können. Auf der Plattform wurden die Design-Prinzipien mit evidenzbasierten Methoden aus den angewandten Verhaltenswissenschaften fusioniert. Zum Zweiten wollen wir eine Möglichkeit bieten, dass diese Gruppen miteinander interagieren und direkt voneinander lernen können. Drittens wollen wir die Informationen von diesen Gruppen für den Aufbau einer wissenschaftlichen Datenbank verwenden, ähnlich der Datenbank für Nutzergruppen gemeinsamer Ressourcen, die es Lin Ostrom ermöglichte, die Design-Prinzipien überhaupt erst zu bestimmen.6
Lin ist leider im Juni 2012 an Krebs gestorben. Nur wenige Monate zuvor hatten wir gemeinsam an ihrem »Workshop für Politische Theorie und Institutionenanalyse« an der Indiana Universität eine Veranstaltung zu »Rules as Genotypes in Cultural Evolution« (»Regeln als Genotypen in der kulturellen Evolution«) durchgeführt. Gleichzeitig versuchte sie, für ihren Mann Vincent zu sorgen, die Nachfrage nach Vorträgen in aller Welt gerecht zu werden, ihre Projekte zu koordinieren und sich um sich selbst zu kümmern. Ich bin dankbar zu den vielen Menschen zu gehören, die von ihr berührt waren, und stolz, zu ihrem Erbe beitragen zu können, indem ich helfe, die Design-Prinzipien zu verallgemeinern und sie allen Gruppen zugänglich mache, die gemeinsame Ziele erreichen wollen.
Literatur
Boehm, C. (1993): »Egalitarian society and reverse dominance hierarchy«, in: Current Anthropology, 34, S. 227-254.
–– (1999): Hierarchy in the Forest: Egalitarianism and the Evolution of Human Alt-ruism, Cambridge, Massachusetts, Harvard University Press.
–– (2011): Moral Origins: The Evolution of Virtue, Altruism, and Shame, New York, Basic Books.
Campbell, D. T. (1990): »Levels of organization, downward causation, and the selection-theory approach to evolutionary epistemology«, in: G. Greenberg und E. Tobach (Hg.), Theories of the Evolution of Knowing, Hillsdale, NJ, Lawrence Erlbaum Associates, S. 1-17.
Cox, M., G. Arnold und S. Villamayor-Tomas (2010): »A review of design principles for community-based natural resource management«, in: Ecology and Society, 15.
Hardin, G. (1968): »The Tragedy of the Commons«, Science 162, S. 1243-1248.
Margulis, L. (1970): Origin of Eukaryotic cells, New Haven, Yale University Press.
Maynard Smith, J. und Szathmary, E. (1995): The Major Transitions of Life, New York, W.H. Freeman.
–– (1999): The Origins of Life: From the Birth of Life to the Origin of Language, Oxford, Oxford University Press.
Okasha, S. (2006): Evolution and the Levels of Selection, Oxford, Oxford University Press.
Ostrom, E. (1999): Die Verfassung der Allmende: jenseits von Staat und Markt, Tübingen, Mohr Siebeck.
–– (2010): »Polycentric systems for coping with collective action and global environmental change«, in: Global Environmental Change, 20, S. 550-557.
Sober, E., D. S. Wilson (1998): Unto Others: The Evolution and Psychology of Unselfish Behavior, Cambridge, MA, Harvard University Press.
Williams, G. C. (1966): Adaptation and Natural Selection: A Critique of Some Current Evolutionary Thought, Princeton, Princeton University Press.
Wilson, D. S. (2011a): The Neighborhood Project: Using Evolution to Improve My City, One Block at a Time, New York, Little, Brown.
–– (2011b): »The Design Your Own Park Competition: Empowering Neighborhoods and Restoring Outdoor Play on a Citywide Scale«, in: American Journal of Play, 3, S. 538-551.
–– (2014): »Introducing PROSOCIAL: Using the Science of Cooperation to Improve the Efficacy of Your Group«, This View of Life.
–– (2015): Does Altruism Exist? Culture, Genes, and the Welfare of Others, New Haven, Yale University Press.
Wilson, D. S., R. A. Kauffman; M. S.Purdy (2011): »A Program for At-risk High School Students Informed by Evolutionary Science«, PLoS ONE, 6(11), e27826. doi:10.1371/journal.pone.0027826
Wilson, D. S., J. M. Gowdy (2013): »Evolution as a general theoretical framework for economics and public policy«, in: Journal of Economic Behavior & Organization, 90, S. 3-10. doi:10.1016/j.jebo.2012.12.008
Wilson, D. S., S. C. Hayes, A. Biglan und D. Embry (2014): »Evolving the Future: Toward a Science of Intentional Change«, in: Behavioral and Brain Sciences, 37, S. 395-460.
Wilson, D. S., E. Ostrom und M. Cox (2013): »Generalizing the Design Principles for Improving the Efficacy of Groups«, in: Journal of Economic Behavior & Organization, 90, S. 21-32.
Wilson, D. S., E. O. Wilson (2007): »Rethinking the theoretical foundation of sociobiology«, in: Quarterly Review of Biology, 82, S. 327-348.
1 | Hardin beschrieb de facto keine Allmende, sondern ein Open-Access-Regime, das allen offen steht, in dem es keine Gemeinschaft gibt, keine Regeln, keine Überwachung der Ressourcennutzung oder andere für die Commons/Allmende charakteristischen Merkmale.
2 | Dieser Argumentation begegnet man auch häufig in der digitalen Welt, in der vom »Aus-kooperieren« die Rede ist (Anm. der Hg.).
3 | Mehr zur Kontroverse über Gruppenselektion, die meines Erachtens mittlerweile größtenteils beigelegt worden ist, in Okasha 2006, Sober und Wilson 1998, Wilson und Wilson 2007 sowie Wilson 2015.
4 | Siehe: http://evolution-institute.org, Zugriff am 19. März 2015.
5 | Unser Artikel wurde in einem Sonderheft des Journal of Economic and Behavior Organization mit dem Titel »Evolution as a General Theoretical Framework for Economics and Public Policy« (»Evolution als allgemeiner theoretischer Bezugsrahmen für Wirtschaft und Politik«) publiziert.
6 | Die Plattform soll zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Buches online sein (Anm. der Hg.).