Die Welt der Commons

Muster des gemeinsamen Handelns

Wie ich dreißig Jahre zu Commons forsche, ohne es zu wissen

Étienne Le Roy

Was mir den Blick auf die Commons verstellte

Als Wissenschaftler einer noch jungen Disziplin über Commons zu schreiben ist in mehrfacher Hinsicht problematisch.

Zunächst ist da die Verzögerung, mit der das Thema überhaupt ins Zentrum unserer Aufmerksamkeit gerückt ist. Wieso ist das nicht bereits vor 50 Jahren geschehen? Warum brauchten wir so lange, um jene Hindernisse zu überwinden, die uns unfähig machten, soziale Phänomene als Commons-Phänomene zu erkennen und zu denken? Ich konnte viele Fragen beantworten, ich schrieb bereits im Paradigma des Teilens, und doch war es mir unmöglich, die Fragen so zu stellen, dass ich meine Themen in einer Commons-Terminologie hätte verstehen oder verfassen können. Das zweite Problem ist, dass es eine Art Dominoeffekt auslöst, wenn man die Commons-Akte öffnet. Sobald der erste Stein fällt, gerät das Ideenfundament, auf dem die moderne westliche Zivilisation ruht, außer Balance, und das fundiert Geglaubte stürzt in sich zusammen: Staat, Recht, Markt, Nation, Arbeit, Verträge, Schulden, juristische Person, Privateigentum und Institutionen wie Verwandtschaft, Ehe- und Erbrecht werden plötzlich hinterfragt. Wir halten diese oft für allgemeingültig, doch im interkulturellen Vergleich sind sie nur eine Sitte (»folkway«), die unsere moderne, westliche Rechtstradition (»folklaw«) geprägt hat. Das dritte Problem schließlich hat mit dem hochpolitischen, gar polemischen Charakter der zeitgenössischen Commons-Debatte zu tun, wie sie in Frankreich derzeit in der Publikation Commun von Pierre Laval und Christian Dardot ihren Ausdruck findet. Schon der Untertitel spricht eine klare Sprache: »Essay über die Revolution im 21. Jahrhundert«. Die Autoren bringen wichtige Fragen zurück in die wissenschaftliche Diskussion, Fragen, die Karl Marx schon Mitte des neunzehnten Jahrhunderts aufgeworfen hatte, als er über die Bedeutung und die Rolle des Kapitals reflektierte.

Die derzeitige Aufmerksamkeit für Commons legt es nahe, sich diesen Problemen der Reihe nach zu widmen, doch eines vorweg: Theoretisch könnten Commons eine Alternative zu Markt und Staat darstellen, doch praktisch sind wir weit von dieser Alternative entfernt.

Wie alles anfing

Meinen Hochschulabschluss in Anthropologie und Öffentlichem Recht erhalte ich 1964. Im Verlauf meiner Forschungen zur Diplomarbeit, dem heutigen Master entsprechend, stoße ich auf Michel Alliot, einen jungen Professor aus Afrika, auf die Wissenschaftsdisziplin der Rechtsanthropologie sowie auf die Landfrage in Afrika. Diese drei Entdeckungen werden mein Leben verändern.

Ich entscheide mich für Michel Alliot als Doktorvater und schreibe meine Doktorarbeit, eine der ersten in der französischen Rechtsanthropologie (Le Roy 1970), über die senegalesische Bodenreform und das Gesetz Nr. 64-46. Mich treibt der Ehrgeiz, nicht nur die Ursprünge und Wurzeln dieser Reform zu kommentieren, sondern auch zu erläutern, was sie eigentlich erfassen und regulieren will: nämlich das Gewohnheitsrecht.1 Dafür vertiefe ich mich bis ins 16. Jahrhundert in die Geschichte des Landbesitzes in einer schwarzafrikanischen Gesellschaft. Ich entdecke das Feld der Commons, finde dafür aber keinen Ausdruck.

Das liegt an der ethnozentrischen Ideologie2 des Kolonialismus sowie den Grundlagen, auf denen das Denken der Moderne sowie die Entwicklungsvorstellung dieser Zeit fußen.3 Das sogenannte Gewohnheitsrecht war ein Nicht-Identifiziertes-Wissenschafts-Objekt (NIWO). Nur wenige haben versucht, dessen tiefere Besonderheit tatsächlich zu erfassen. Meistens behandelte die Wissenschaft Rechtsphänomene in Afrika, als wären sie das Gegenteil der Rechtskonzeption, die im Westen seit drei Jahrhunderten entwickelt wurde. Primitivismus4 und wissenschaftliche Überheblichkeit sind nie weit voneinander entfernt.

Diesen NIWO-Status hat das Gewohnheitsrecht auch, weil dessen Regeln nicht nach allgemein gültigen Standards oder den unpersönlichen Kriterien unserer modernen Gesetzgebung formuliert sind. Vielmehr erfassen sie verstetigte Verhaltensmuster und zeitstabile Bereitschaften, auf eine bestimmte Art und Weise zu handeln. Diese wiederum können nun nur mit formalen Modellen erfasst und erforscht werden. Ich entscheide mich also, eine Matrix zu Hilfe zu nehmen und zu versuchen, die »Gewohnheiten« als Rechtsakte abzubilden; nicht im Sinne des kodifizierten Rechts, sondern im Sinne von Mustern, die sich in Verhaltensregeln ausdrücken, die in den verschiedenen Gemeinschaften immer wieder auftauchen.

Auf der Matrix kann ich drei verschiedene Datensätze miteinander verschränken und so einem Phänomen begegnen, das ich gerade entdecke und das die Forschung herausfordert: den Rechtspluralismus. Bemerkenswerterweise entdecke ich schon durch die Abbildung nach den Prinzipien der Matrix die Grundelemente der Beschreibung der Commons – doch ohne mir dessen gewahr zu werden: eine Gemeinschaft, in der jeder einen Status hat, eine von den anderen anerkannte und gewürdigte Tätigkeit und eine Ressource, die es – symbolisch – erlaubt, die Absichten und Dispositionen aller Beteiligten zusammenzubinden. Insgesamt also ein sanktionierbares System das dem »Recht« gleichkommt.

In meinen frühen Arbeiten und in jenen der 1970er Jahre, in denen ich die anthropologischen Modelle der Beziehung des Menschen zum Land weiterentwickele (Le Roy 2011), steht das Problem der Gemeinschaften im Mittelpunkt. Gemeinschaftliche Grundkonzeptionen, die das Handeln prägen, sind erkennbar, und der zivilrechtliche Begriff der »Gemeinschaftsgüter« (»biens communaux«) ist in meinen Erörterungen ebenfalls zu finden. Aus heutiger Sicht scheint es erstaunlich, doch von Commons ist bei all dem nirgends die Rede, obwohl das Gedankengut des »mbock« der westafrikanischen Wolof bereits meine Analysen prägt.

»Mbock« – das bedeutet in der Sprache der Wolof »Verwandtschaft« und im Kern auch »Teilen«. An einer Stelle bezieht es sich auf gemeinsame Vorfahren, an anderer auf eine Feldgemarkung, eine Herde, Waldflächen und anderes mehr. Zu entdecken, dass das Teilen dem Tauschen vorgezogen wird, fordert plötzlich all jene Erkenntnisse heraus, deren sich die Anthropologie sicher glaubt: nämlich eingeschränkter Austausch in Verwandtschaftsbeziehungen nach der Theorie von Claude Lévi-Strauss5; das Konzept der Gabe von Marcel Mauss6; jene des Eigentums bei Maurice Godelier7 und andere mehr. Teilen ist das vorherrschende Organisationsprinzip in den Commons. Aber das werde ich erst verstehen, während ich zwischen 1980 und 1990, ein neues Modell für die Bewirtschaftung von Land und Obstanbauflächen erarbeite (Le Roy 1996). Ich versuche darin zu erklären, wie Afrikaner (aber auch wir selber), imaginäre kulturelle Grenzen überschreitend, in ihren komplexen Praktiken im Grunde verschiedene Rechtsformen des Eigentums und der Ressourcennutzung kombinieren. Dabei gilt die Inkompatibilität oder gar Inkohärenz vieler derartiger Kombinationen in der modernen Wissenschaft schon fast als Binsenweisheit.

Eine Reform unvorhersehbarer Tragweite

Ich erzähle all diese intellektuellen Abenteuer in meiner 2011 entstandenen Synthese zur Bodenpolitik. Es ist ein theoretischer Versuch (Le Roy 2011). Darin kombiniere ich die Rechtsbeziehungen der individualistischen Moderne (öffentlich und privat) mit denen des Kommunitarismus (extern, intern und Bündnisse). Ich verschränke also die Kategorien öffentlich und privat beziehungsweise eine Kombination aus beiden mit intern und extern. Dabei erweist sich der Begriff des Gemeinsamen als geeignet, diese Beziehungen in folgender Logik zu ordnen:

öffentlich = allen gemein

extern = n Gruppen gemein

Bündnis = zwei Gruppen gemein

intern = einer Gruppe gemein

privat = einer juristischen, physischen oder moralischen Person einer unbestimmten Anzahl von Gruppen gemein

Zweifellos führen all diese Möglichkeiten kollektiver Organisation noch nicht zu dem, was zeitgenössische Commons-Theorie (Bollier 2014; Dardot und Laval 2014) unter Commons versteht, aber seit 1996 steht dieses Gemeinsame zumindest im Mittelpunkt meiner Analysen zur Bodenpolitik. Mit 30 Jahren Verspätung!

Dieser Fehlstart begründet sich zum einen mit dem anthropologischen Paradigma selbst. Dieses hat (in Sachen Landnutzung im Senegal) »das Recht« zum Gegenstand. Demzufolge kann das konzeptionelle und methodische Werkzeug, das man benötigt, um das Ungedachte und Undenkbare des Gewohnheitsrechts zu verstehen, nur das Werkzeug der Juristen sein: also Normen und Rechtsvorschriften. Wobei für den Anthropologen »das Recht weniger das [ist], was die Texte sagen, sondern vielmehr das, was die Akteure damit tun« (Le Roy 1999). Die Texte sind wichtig, aber wie sie interpretiert und angewendet werden, ist noch wichtiger. Oder wie ein französisches Sprichwort sagt: »Es ist ein weiter Weg vom Becher bis zum Mund.«8 In den endogenen, mündlichen afrikanischen Kontexten gibt es keine zu interpretierenden Texte und keine zu kommentierenden expliziten Normen. Man muss die Praktiken beobachten! Indem der Anthropologe der Stellung und Rolle der Akteure, ihrem Status, ihren Handlungen und ihren Wechselbeziehungen die nötige Aufmerksamkeit widmet, geht er zu jenen Abstraktionen auf Distanz, die unsere westlichen Rechtssysteme grundlegend strukturieren, die man aber bei den Wolof und in anderen Gesellschaften, die wir Anthropologen erforschen, vergeblich sucht.

Der Begriff »Commons« ist eine Abstraktion, die vor allem in den Wirtschaftswissenschaften in Umlauf gebracht wird. Und in eben diesem Bereich – der Wirtschaft – verbreitet sich die seit 19689 allzu berühmte »Tragik der Allmende« von Garrett Hardin. Sie untergräbt für mindestens eine Generation andere Ansätze wissenschaftlicher Forschung zur kollektiven Ressourcenverwaltung. Ich gebe übrigens zu, dass ich erst seit Mitte der 1980er Jahre (angesichts der Kollateralschäden dieser Pseudo-Theorie samt ihrer schludrigen Verallgemeinerungen) diese lächerliche Geschichte der Schäfer ernst nehme, die unfähig sein sollen, ihre Weiden gemeinsam zu nutzen.10

Der zweite Grund für den Fehlstart der Commons in der akademischen Debatte betrifft die Entwicklungstheorien der damals »unterentwickelt« genannten Länder. Durch sein Gesetz über das Staatsgebiet11 versetzt sich Senegal schließlich in die Lage, von einem Entwicklungsmodell abzuweichen, dass ganz grundlegend mit Markt und Privateigentum verknüpft ist. Das geschieht im Namen eines afrikanischen Sozialismus, der für die »Négritude«, jener poetischen Entdeckung afrikanischer Wurzeln des Dichterpräsidenten Léopold Senghor12 mindestens genauso empfänglich ist wie für einen Bruch mit dem Kapitalismus. Doch es geht dabei nicht darum, mit dem Kapitalismus zu brechen, sondern darum, die vollständige Durchsetzung des Privateigentums – ein Erbe der Kolonialzeit – zu bändigen. Entsprechend beabsichtigt das Gesetz Nr. 64-46 nicht, Privateigentum abzuschaffen. Es genehmigt sogar alle Regularisierungen privater Rechte im Zuge der Katastererfassung, die noch hätten abgeschlossen werden sollen, für die aber die vorgesehene Erfassungszeit nicht ausreichte. Darüber hinausgehende Anträge auf Katastererfassung von weiterem privatem Grund und Boden werden der Kontrolle der Verwaltung überstellt. Damit soll verhindert werden, dass Privateigentum, welches Leopold Senghor in einer Rede von 1964 als »egoistisch« qualifiziert, sich direkt auf die sozialen Bindungen auswirkt.

Nach dieser Reform können ausschließlich Transaktionen von öffentlichem Nutzen (Artikel 13) die Umwandlung lokaler, endogener Eigentumsrechte in Staatseigentum rechtfertigen. Dieser kann sie anschließend auf Privatpersonen übertragen. Der Ansatz beruht auf der Annahme, dass öffentliche Institutionen im Senegal neutral sind, was später leider durch Fakten widerlegt wird. Wir werden sehen, wie diese Form der »Nationalisierung« mit der Verstaatlichung flirtet. Dafür schauen wir uns zunächst den Gesetzestext und dann die Praxis selbst an.

Vom Gesetzestext …

Formell gehören 96 Prozent des Territoriums dem Nationalstaat, der Rest sind öffentliche sowie Verwaltungsgrundstücke und die bereits ins Grundbuch eingetragenen privaten Ländereien. Dieses »der Nation gehörende Territorium« hat keine Rechtspersönlichkeit – es gehört damit dem senegalesischen Staat. Folglich kommt es auf die Interpretation des Begriffs »Gehören« an. Artikel 2 interpretiert es im Sinne der Treuhänderschaft.

Das Gesetz Nr. 64-46 ändert also die Regelung zum Landbesitz in einer Weise, die sich für den Senegal als zukunftsweisend herausstellen soll, denn in der Kolonialgesetzgebung wurden diese Ländereien rechtlich wie Privateigentum des Staates behandelt; wie ungenutzte Flächen – der Verwaltung zur freien Verfügung stehend, herrenlos – verstanden. Jetzt hingegen sind sie konkreten Verwaltern anvertraut und in vier Regelungsbereiche aufgeteilt: 1) Stadtgebiet, 2) Entwicklungsgebiete (»zones classées«), 3) Flächen in ländlichen Gebieten (»zones de terroirs«) und 4) Pionierflächen. Ein wesentlicher Teil dieses mit 17 Artikeln sehr kurzen Gesetzestextes befasst sich mit den ländlichen Flächen, die von den Gemeinden bewirtschaftet werden. Eben hier finden sich die meisten Bezüge zu Commons. Es wird festgehalten, »dass die Flächen in ländlichen Gebieten (zones de terroir) von Mitgliedern der ländlichen Gemeinden genutzt werden, die ihre Bewirtschaftung gewährleisten und unter Kontrolle des Staates betreiben […]« (Artikel 8), und dass die Entscheidungsgewalt über konkrete Nutzungen (Artikel 9) oder Stilllegung (Artikel 15) bei den jeweiligen Räten der entsprechenden Gemeinde liegt. Das ist nichts anderes als eine Bestimmung zur Selbstorganisation, die tatsächlich eine Kultur der Commons hätte erzeugen und formalisieren können – hätten die Parteien nicht die Finger im Spiel.

… in die Praxis

Aufbauend auf meiner ersten Feldforschung im Jahre 1969 und mit Hilfe meiner Kontakte zum Minister für Ländliche Entwicklung, Ben Mady Cissé, will ich den bodenpolitischen Fragen im Zuge der Umsetzung des Gesetzes 64-46 auf den Grund gehen. Nach der Verteidigung meiner Doktorarbeit 1970 schicke ich meine Forschungsergebnisse tatsächlich an Präsident Senghor, der sie leider seinem Innenminister Jean Colin anvertraut. Colin, ein ehemaliger Kolonialbeamter, war durch Heirat zum Senegalesen geworden. Er sieht in meinen Ergebnissen eine Gefahr für seine eigenen Pläne: nämlich die ländlichen Gemeinden (in typisch französisch-jakobinischer Pose) als regionale Basiskollektive unter staatliche Aufsicht zu stellen. Der Übergang vom Prinzip der Selbstorganisation zur Einbindung in ein zentrales Verwaltungsnetz hat, trotz einsetzender Dezentralisierung im Jahre 1972, die Rolle der ländlichen Gemeinden grundsätzlich verändert.

In der Commons-Theorie wird normalerweise die Distanz sowohl zum Markt als auch zum Staat unterstrichen. Während der Markt im Senegal noch auf Distanz bleibt, mischt der Staat in Sachen Landnutzung auf lokaler Ebene ganz erheblich mit und reduziert die Autonomie der ländlichen Gemeinschaften. Dieses Kontrollbedürfnis findet auch in jenen Ereignissen seinen Ausdruck, die Dakar im August 1970 erlebt. Eine schwere Regierungskrise führt zum Exil des Ministers Ben Mady Cissé, zur Wiederaufnahme der Konzepte des Innenministeriums und zur »endgültigen« Verweigerung meines Aufenthaltsrechts im Senegal. (Ich werde jedoch, sobald meine Anwesenheit nicht mehr als gefährlich betrachtet wird, vor Ende des Jahrzehnts zurückkehren.) Die Idee der Commons ist damit nicht nur als Konzept des Rechts inexistent, sondern die Akte ist – zumindest offiziell – geschlossen.

Doch die Senegalesinnen und Senegalesen vor Ort haben sich die ursprünglichen Reformideen bereits angeeignet. Trotz mangelhafter Verwaltungsverfahren und pingeliger Interventionen entsprechender Abteilungen, setzt sich im Grunde eine Logik durch, die der Ausbreitung des Privateigentums Einhalt gebietet und zur Übernahme von Selbstverantwortung im Ressourcenmanagement führt. Selbst die im Senegal mächtigen, muslimischen religiösen Bruderschaften spielen mit, was man von in- und ausländischen Investoren nicht behaupten kann. Diese haben seit 1980 die Aufhebung des Gesetzes Nr. 64-46 gefordert, das allen Anfeindungen zum Trotz im Jahr 2014 sein 50-jähriges Bestehen feiert.

Trotz politischer, wirtschaftlicher und prozessualer Unklarheiten und manch Widerstands an der Spitze des senegalesischen Staates hat sich letztlich in der Praxis eine Logik der Commons durchgesetzt. Ist das ein Einzelfall?

Funktionale statt institutionelle Logik

Im Jahr 2012 nehme ich an einer Konferenz für Juristen und Rechtshistoriker an der Universität Paris VIII-Saint-Denis zum Thema »Das Wiederauftauchen der Commons, zwischen Illusionen und Notwendigkeiten« ein, deren Debatten in eine Publikation münden werden (Parance und Saint Victor 2014). Die Konferenz sollte ein sehr viel positiveres Bild von den Commons zeichnen, als es der Einladung zu entnehmen ist. In meiner Rede präsentiere ich drei Thesen:

1. Unsere moderne Gesellschaft hat Commons und die Erfahrung des »Gemeinsamen«, des Commoning, verloren.

2. Die Wiederentdeckung der Commons legt nahe, dass das Paradigma des Teilens jenem des Tauschens vorzuziehen ist.

3. Die Problematik der Commons wirft notwendigerweise die Frage nach einem Rechtspluralismus auf.

Um diese Thesen zu belegen, beziehe ich mich auf zwei unterschiedliche Erfahrungen: die Land- oder Bodenreformen in Afrika und im Indischen Ozean sowie meine Beobachtungen inmitten der französischen Gesellschaft, in der Stadt und auf dem Land.

Bodenreformen umzusetzen ist immer heikel. Im afrikanischen Kontext gibt solch ein Unterfangen zudem Rätsel auf, denn de facto muss zunächst Eigentum an Grund und Boden geschaffen werden, wo es vorher keines gab. Mitunter weigern sich die jeweiligen Gemeinschaften, dass es selbiges geben soll. Und zwar aus gutem Grund: Sie fühlen sich nämlich durch verwandtschaftliche Beziehungen oder Beziehungen an ihren Wohnorten besser abgesichert. Sicher hat sich die Welt verändert, aber nicht für alle und nicht nur in eine Richtung. Die senegalesische Landreform illustriert diese Mischung von verschiedenen politischen Anliegen, dem Lobbying internationaler Geldgeber und unsicherem Wissen über sich rasch wandelnde Gesellschaften. Am Ende steckt der Experte in einer Klemme. Da ist einerseits die offiziell verlautbarte Notwendigkeit einer sogenannten Modernisierung auf globaler Ebene, die keinesfalls aufzugeben sei und andererseits die Resilienzfähigkeit13 von Gemeinschaften und Gesellschaften, die mit unzähligen Veränderungen konfrontiert sind und die – sofern sie nicht unterstützt werden – als Gegenreaktion zu beispielloser Gewalt zurückkehren (Appadurai 2013). Wenn man den Fortschritt nicht ablehnen kann, dann muss er zumindest den Bedürfnissen der gesamten Bevölkerung entsprechen (und nicht nur jenen der verwestlichten Elite). Und er muss mit den Einschränkungen umgehen, die sich aus den globalen Anforderungen an eine nachhaltige Entwicklung ergeben.

Auch wenn wir Forscher in diesen etwa dreißig Jahren nicht alles verstanden haben, so haben wir doch gemeinsam viel gelernt; insbesondere durch Aktivitäten des »Vereins zur Förderung von Forschung und Studien zum Grundbesitz in Afrika« (APREFA14). Bis 1996 hatte ich den Vorsitz von APREFA inne. Damals gründeten wir im Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten Frankreichs einen »technischen« (also politisch nicht entscheidungsbefugten) »Ausschuss für Grundbesitz und Entwicklung«. Es ging uns darum, die Expertise der Forscher mit dem Analysebedarf der Diplomaten und der Mitarbeiter für Entwicklungszusammenarbeit zusammenzubringen. Der Ausschuss verfolgte also eine Idee der angewandten Forschung und Kooperation und wollte zugleich die interdisziplinäre Grundlagenforschung voranbringen. Das zentrale Forschungsthema war auch hier: in wie weit und in welcher Form privates Eigentum an Grund und Boden anzuerkennen ist.

Unsere Arbeit zeigte, dass Privateigentum – nach Artikel 544 des französischen Code Civil15 »das Recht, eine Sache in absolutester Weise zu nutzen und darüber zu verfügen […]«16 – sowie Eigentum (als dessen Entsprechung im Common Law) nur in Kontexten nötig sind, in denen der nach kapitalistischen Prinzipien organisierte Markt allgegenwärtig ist. Zwischen fehlenden Eigentumstiteln einerseits und »absolutem« Eigentum andererseits können verschiedene Zwischenformen sowohl den Bedürfnissen lokaler Produzenten entgegen kommen als auch das Risiko des großflächigen Aufkaufs von Land, des »Landgrabbing« – reduzieren. Auf dieser Annahme beruhen die oben beschriebenen Modelle zur Kontrolle von Land und Ressourcen. Und sie beruhen auf Lösungen, die in der Praxis von den Gemeinschaften in einer Commons-Logik umgesetzt werden, aber theoretisch kaum beschrieben sind. Auch dies ist eine Lektion unsere Arbeit: Hinter den Entwicklungsillusionen, nach denen alle Privateigentümer werden sollten – eine Position, die etwa Hernando de Soto17 vertritt –, verbirgt sich die Vertreibung der Bevölkerung und die Anhäufung von Bodenrenten18 auf dem Rücken der mehrheitlich kleinen Produzenten.

Erinnern wir uns: Gute Regierungsführung in Sachen Bodenpolitik im 21. Jahrhundert sollte – abgestimmt auf die jeweilige Gruppe vor Ort – variable Anteile von Privateigentum und Gemeingut enthalten. Die senegalesische Erfahrung begann damit, die Ausbreitung des Privateigentums kontrollieren zu wollen. Dafür erkannte man dem Staat eine Rolle zu, die er so gewaltig überzog, dass es heute schwierig ist, beim Blick auf den Rechtsstatus senegalesischer Dörfer überhaupt noch von Gemeingütern zu reden. Zugleich müssen wir verschiedene Arten von Eigentum anerkennen, so wie auch unterschiedliche Arten von Commons identifizierbar sind. Und genau dies hat mich meine Erfahrung auf den Komoren seit 1986 gelehrt.

Damals bittet mich die FAO (Food and Agriculture Organization – die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen) eine Expertengruppe zu leiten, die die Bodenpolitik auf den Komoren stabilisieren soll. Als die ehemalige französische Kolonie 1975 unabhängig wird, erlebt sie bis 1978 eine revolutionäre Krise. Diese führt unter anderem zur Besetzung des ehemaligen Kolonialbesitzes, auf dem Blumen zur Parfümherstellung sowie Vanille angebaut werden. Sie führt auch zur Verbrennung aller Grundbücher, ganze Archive werden vernichtet – und damit auch die Eigentumstitel. Im Jahr 1986, in einer wirtschaftlich instabilen Situation und auf Druck der internationalen Geldgeber, muss die Regierung einwilligen, die Landfrage zu ordnen, um Investoren anzuziehen, und zwar ohne eine unnötige Rückkehr zur Gewalt zu provozieren.

Als Bodenrechtsexperte obliegt es mir, verschiedene Szenarien vorzuschlagen. Ich skizziere sechs Optionen und beschreibe deren Möglichkeiten und Grenzen. Das reicht von »alles« (proaktive und rasche Ausweitung des Privateigentums auf die gesamte Bevölkerung) bis »nichts« (die Regierung begnügt sich damit, die sensibelsten Konflikte beizulegen und lässt auf diese Weise zu, dass sich die lokalen Kräfteverhältnisse sowie lokale Verhandlungsformen durchsetzen). Wenn es nach fast dreißig Jahren so aussieht, als näherten wir uns dem »nichts«, weil, formal gesehen, keine Reform jemals umgesetzt wird, dann verschließen wir die Augen vor der intellektuellen und technischen Revolution, die es den Funktionären der ländlichen Entwicklung gestattet hat, die Landnutzungsproblematik nach dem Ansatz der Unveräußerlichkeit anzugehen, den ich von der Regierung im Jahr 1987 absegnen lasse. Das Parlament der Komoren kann den Gesetzestext nicht mehr vollständig durchbringen, da der Präsident der Republik, Hamed Abdallah, im November 1989 ermordet wird.

Die Zukunft der großen kapitalistischen Betriebe ist gefährdet. Und unsere Herausforderung besteht nunmehr darin, die kleinbäuerliche Landwirtschaft zu stabilisieren, die das Land ernähren und den Export bestimmter Kolonialwaren garantieren kann. Dafür bedarf es einiger Neuerungen wie etwa der »Einhegung«19 von Pflanzen auf jenen Ländereien, die bislang frei zugänglich sind und als Dorf-Commons verwaltet, aber von einzelnen Familien genutzt werden.20 Darüber hinaus hilft die technische Beratung dabei, regelmäßig einen Dorfverwaltungsrat abzuhalten, ein verlässliches, aber kaum formalisiertes Treffen von Landwirten und Alten nach dem Freitagsgebet. Es soll Problemen vorbeugen und lokale Spannungen regeln, bevor sie zu Konflikten wachsen. Die Optionen meiner juristischen Texte werden in soziale Praktiken umgesetzt, da auf allen Ebenen des politisch-administrativen Lebens eine Verhandlungskultur dominiert und weil die Idee der Unveräußerlichkeit jener des absoluten Eigentums vorgezogen wird. Die Expertise der Entwicklungsexperten hat demnach zwei glückliche Wirkungen: Sie erspart dem Staat die politischen Kosten einer Bodenreform und garantiert einen Lebensstil, der, wenngleich bescheiden und oft nah an der Armut, würdiger ist, als der vieler Nachbarn.

Später komme ich genau dorthin: nach Madagaskar, allerdings erst nach zwei weiteren Einsätzen. Der erste führt mich in den Niger, um zur Erarbeitung des nigrischen Agrarrechts beizutragen. Der zweite nach Mali, wo ich, weil man die Baumwollindustrie des Landes retten will, viele Ungereimtheiten in Fragen des Grundbesitzes beobachte. Alle drei Länder – Niger, Mali und Madagaskar – haben bereits eine eigene Landrechtsgeschichte. Ein »Copy and Paste«-Verfahren, wie wir es aus der digitalen Welt kennen, ist undenkbar. Man kann nicht einfach auf ein Land anwenden, was in einem anderen zu funktionieren scheint. Allerdings steht man überall vor ähnlichen Fragen: kein generalisierbares oder leicht zu generalisierendes Privateigentum an Grund und Boden; unbotmäßige Präsenz des Staates durch die Privilegien des Staatseigentums; Unkenntnis oder sogar Ablehnung der traditionellen Praktiken einheimischer Akteure, die immer noch »Gewohnheitsrecht« genannt werden.

In Madagaskar stürze ich mich in die sogenannte Realwirtschaft und beobachte die Holzenergiebranche. Sie bietet der Bevölkerung ein Auskommen durch Eukalyptus-Pflanzungen auf den sogenannten »tanety«21, die sie gemeinschaftlich verwalten. Dann weite ich meine Forschungen auf die vertraglichen Beziehungen aus, da mich Inhalt und Umfang der Pacht-Klauseln22 interessieren, ebenso wie die Halbpacht23 und die wahre Natur der entsprechenden Eigentumsrechte. Im Ergebnis entsteht eine enge Zusammenarbeit mit Alain Karsenty (ein Sozio-Ökonom des französischen Forschungszentrums für internationale Agrar- und Entwicklungsfragen, CIRAD24), und ich erlebe 1996 die Verabschiedung des sogenannten »Gelose-Gesetzes« durch die madagassische Regierung.

Das Gesetz beruft sich nicht auf das »absolute Eigentumsrecht«. Es ermächtigt vielmehr die Beteiligten, Verträge zum Ressourcenmanagement zu verhandeln, solange die relative Sicherheit der Eigentumsrechte an Grund und Boden gewährleistet ist. Dieser Schritt mündet 2005 in eine weiter reichende Bodenreform, die es gestattet, dass in jeder Gemeinde eine Stelle eingerichtet wird, an dem man über sogenannte Bodenzertifikate verhandeln kann. Die Zertifikate sind rechtskräftig. Es sind juristische Dokumente, die in der entsprechenden Verwaltungsregion für Transaktionssicherheit sorgen, wobei sich natürlich das Bedürfnis nach mehr Sicherheit weiterhin mit der Idee von (eingetragenen) Grundbuchtiteln verbindet. Zwischen der gemeinschaftlichen Verwaltung unter Gleichgesinnten und den anonymen Landtiteln ist das Zertifikat ein interessanter Mittelweg, der aber aus eben diesem Grund auch in Frage gestellt wird. Die madagassische Erfahrung erlebt international ein großes Echo, doch anderswo übernommen wird sie seither nicht.

Auch in Frankreich tauchen Commons wieder auf

Meine andere Erfahrungswelt rührt daher, dass ich mir seit Mitte der 1970er Jahre Gedanken mache, wie ein bis dahin exklusiv afrikanistischer wissenschaftlicher Ansatz auch auf die französische (oder europäische) Gesellschaft übertragen werden kann. Der Grundgedanke ist, mit der Rechtsanthropologie eine noch exotische Wissenschaft auch »zu Hause« anzusiedeln, um den Ethnozentrismus zurück zu drängen. Und während ich mir immer wieder die Frage stelle, was das Recht im Grunde ist, entsteht die Idee, meine Feldforschung im Senegal von 1969 und anschließend im Kongo 1972/73 auszuweiten. Ich suche nach Ausdrucksformen des Kommunitarismus in Frankreich – zunächst in der Beziehung der Menschen zum Land und anschließend im Kontext des Jugendstrafrechts im Frankreich der 1980er Jahre.

Ich beginne mit meiner eigenen »Ethnie«, da mir die kulturelle Zugehörigkeit den Zugang zu bestimmten Informationen und Verhaltensweisen erleichtert und weil die Picarden aus Nordfrankreich für ihr »Gewohnheitsrecht« berühmt sind. Außerdem habe ich privilegierten Zugang zu spezifischen Informationen über ein konkretes Gebiet in der Picardie, die mittelalterliche Grafschaft Vermandois. Es handelt sich um genealogisches Material, die sogenannten »Kollektaneenbücher«, eine Art Kalender, in dem alle wirtschaftlichen Aktivitäten, alle Verkäufe und Einkäufe, alle Arbeiten, besonderes Wetter oder politische Ereignisse, selbst der Humor der Arbeiterinnen und Arbeiter eingetragen sind. Die »Vernunftbücher« sowie die Aufzeichnungen der Wirtschaftsleiter liefern den Schlüssel zum Verständnis des Erhalts der Gemeinschaftspraktiken in einer bäuerlichen Welt, die mehr und mehr dem kapitalistischen Markt unterworfen wird. Diese Welt fiel den Schützengrabenkämpfen in der Schlacht an der Somme im Jahre 1916 zum Opfer, die das historische Erbe genauso zerstört haben wie Architektur und Landschaft.25 Das Privateigentum drängt sich in dieser Region der Welt seit dem 18. Jahrhundert auf. Und es verbreitet sich im 19., doch verschiedene soziale und rechtliche Praktiken zeugen noch immer von gemeinsamen Bezugspunkten, von der Verpflichtung, etwas »gemeinsam zu pflegen«, so wie man »Gesellschaft pflegt«. »Gemeinschaffen« oder »etwas gemeinsam tun« (»commoning« im Englischen) das bedeutet zum Beispiel, die Kunst der Jagd zu teilen, ebenso wie Hochzeiten und Trauerfälle, die Patronage für Klientel und Arbeiter und darüber hinaus alle gesellschaftlich relevanten Anlässe, in denen Zugehörigkeit und Solidarität im Angesicht des Lebens und des Todes unterstrichen werden. Wie in Afrika ist man im hiesigen bäuerlichen Milieu sowohl reich an familiären wie an beruflichen Beziehungen und Bindungen. Und wie in Afrika werden auch die Einschränkungen, die dies mit sich bringt, intensiv empfunden, aber nicht benannt – schon gar nicht einem Fremden gegenüber.

Pluralismus ist eine Bedingung für das harmonische Funktionieren einer Gemeinschaft, doch er wird als solcher nicht thematisiert. Darin sind meine Gesprächspartner sich einig, doch sie haben auch noch nie aus einer pluralistischen Perspektive über die Landproblematik nachgedacht! Schaut man auf die Eigentumsverhältnisse, so gehört in den Dörfern, in denen ich arbeite, alles irgendwem. Kein einziger Ort ist herrenlos. Die Böden gehören zu den besten Frankreichs. Land ist teuer. Es ist gar nicht daran zu denken, auch nur den geringsten Quadratmeter zu verschenken. Es gibt nur wenige gemeinschaftliche Organisationsstrukturen in den Sumpflandschaften entlang der das Land durchquerenden Mittel- und Unterläufe der Flüsse. Demgegenüber bezeugen Flächen, die spezifischen gemeinschaftlichen Aktivitäten gewidmet sind, die seit Langem existierenden gemeinsamen Praktiken, etwa Faustballspiele oder das Sammeln von Waldfrüchten. Dies ist meine erste Lektion. Sie wird sich in meinem eigenen picardischen Landstrich, dem Amiénois, bestätigen: Ein Eigentumsrecht, das im Prinzip exklusiv und absolut ist, kann von einer »gemeinsamen« und damit ihr innewohnenden, nicht explizit gemachten Funktion überlagert werden. Sie beschränkt dann die Ausübung dieses Rechts zum Nutzen aller Mitglieder einer bestimmten Gemeinschaft, soweit und solange diese Funktion es erfordert. Mangels Spieler transformieren zum Beispiel die Faustballplätze entweder zu Gemeindeplätzen oder zu Materiallagern, zu Blumenrabatten und anderem mehr. Die Funktionslogik triumphiert über die institutionelle Logik!26

Diese Praktiken veranschaulichen, dass hinter der geteilten Nutzung von gemeinsamen Orten Raumvorstellungen auftauchen, die gewöhnlich im Dunkeln bleiben. Es sind topozentrische Raumvorstellungen, die in den afrikanischen Gesellschaften geläufig, aber hier in Europa, aufgrund der Dominanz geometrischer Raumvorstellungen, vergessen sind. Geometrische Vorstellung führen zur Vermessung des Raums und ermöglichen damit, dass dem Maß ein Tauschwert zugewiesen und das Vermessene letztlich in den Markt überführt werden kann (Le Roy 2011). In einer topozentrischen Vorstellung hingegen sind alle Räume jeweils durch einen Ort (Stelle, Punkt) identifizierbar, der eine eigene Funktionalität hat. Diese Räume können sich überschneiden, wenn sie unterschiedliche Funktionen erfüllen, und sie können Grenzen schaffen und damit Territorien markieren, wenn die Funktionen ähnlich sind. Das können politische, wirtschaftliche, religiöse oder andere Funktionen sein. All dies prägt die Formung eines Territoriums.

Man kann also beobachten, wie sich funktional ausdifferenzierte Commons in ein und demselben Gebiet überlagern. Zugleich ist dieses Gebiet formell, nach den Regel des positiven Rechts, konkreten Eigentumsverhältnissen zugeordnet. Solche »Schichtungen« des Rechts mit verschiedenen Kontrollformen verkomplizieren natürlich das Verständnis der Kultur der Menschen und ihrer Netzwerke. Denn im Grunde ist es so: Sobald wir in die Logik der Commons eintreten, versagen einige unserer gewohnten Interpretationsmechanismen für das Funktionieren einer Gesellschaft und ihrer formellen Regulierungsinstanzen. Sie vermögen dann mitunter nicht mehr, als Informationen verzerrt abzubilden – bis hin zur Karikatur.

Im Jahr 2003 kam ich auf Michel Alliots Arbeiten zurück, in denen er die Auffassung vertrat, dass eine Gemeinde oder Gemeinschaft dreifach teilt: Lebensbereiche, ein besonderes Verhalten und ein Entscheidungsfeld. Dieses dreifache Teilen macht Gemeinschaften zu etwas potentiell Totalitärem, sofern die Praktiken des Teilens nicht durch plurale Zugehörigkeiten und Identitäten korrigiert werden. Wir leben ja de facto in vielen Welten zugleich: Familie, Schule, politisches Engagement, Berufsleben, Sport und mehr. Und in jeder dieser Welten haben wir einen eigenen Status und eine eigene Identität. Auch wenn sich das traditionelle, gemeinschaftliche dreifache Teilen in einer Gesellschaft, die durch marktorientiertes Verhalten und staatliche Kontrolle transformiert wurde, nicht mehr reproduziert, so werden doch in diesen multiplen Teilzeit-Identitäten gelegentlich Praktiken des Teilens favorisiert, oft von solchen Gruppen, die ich als »Neo-Gemeinschaften« bezeichne.

Eine Beilage zum Thema »Nachhaltige Entwicklung« der Le Monde vom 4. April 2014 unter dem suggestiven Titel »Die Wette des Teilens«, befasst sich mit den Commons aus der Perspektive des »anderen Konsumierens«. Sie skizziert vor allem die Wirkungen von Fahrgemeinschaften und Formen des genossenschaftlichen Zusammenlebens, so wie es in Frankreich durch das sogenannte Gesetz ALUR (Gesetz über den Zugang zu Wohnraum und Stadterneuerung) nach deutschen Vorbild gefördert wird. Die Journalistin Marie-Béatrice Baudet merkt an, dass sich »Gewohnheiten vor allem unter der Jugend ändern. Das ist sicher, aber damit noch keine Revolution.« Sie zitiert Remy Oughiry vom Meinungsforschungsinstitut IPSOS: »Die Anhänger des kollaborativen Konsums lehnen die Konsumgesellschaft überhaupt nicht ab. Sie wollen nur die Kontrolle darüber zurückzugewinnen.« Und er ergänzt: »Der Wunsch nach Eigentum bleibt sehr hoch.«

So wie Herr Jordan in Der Bürger als Edelmann von Molière entdeckte, dass er sich prosaisch ausdrückte, ohne es zu wissen, so praktizieren wir Commons durch und in unseren gemeinsamen Erfahrungen, die wir nicht mehr als gemeinschaftlich benennen. Denn unter dem Einfluss des Neoliberalismus hat sich der Begriff der Gemeinschaft in der politischen Diskussion in Frankreich in etwas Negatives verwandelt, ein Gegensatz zur Idee vom guten Leben und ein Schreckwort in der politischen Debatte, mit all den Nebenwirkungen, die das mit sich bringt (Hatzfeld 2011).

In Folge dessen stehen wir vor einer Schwierigkeit: Wir legen Verhaltensweisen des Teilens an den Tag, die oft beständig sind, aber nicht mit einer Commons-Praxis in Verbindung gebracht werden. Und wenn versucht wird, dieses Verhalten zu benennen, dann geschieht das meist unter Verwendung des Begriffs »Gemeingut«, der sich aufgrund seiner semantischen und politischen Zweideutigkeit zwar als bequem erweist, aber aus juristischer Sicht widersprüchlich ist. Ein Gut ist eine Sache, die sich im Privatbesitz befindet und über die man vollständig verfügen kann, während ein Commons nicht beliebig veräußert werden kann. Ich werde deshalb den letzten Teil dem rechtlichen Status der Commons widmen. Dies setzt im Prinzip voraus, dass zunächst Kategorien und Rechtsbegriffe eingeführt werden, doch darauf werde ich aus Platzgründen verzichten.

Die Rechtmäßigkeit der Commons

Das oder die Commons27 stellen uns vor zwei Probleme: das Schweigen des Rechts und der Wortschwall desselben, wenn es vorgibt zu regeln, was durch dieses Recht gar nicht zu regeln ist. Dieser offensichtliche Widerspruch verlangt nach einer Art anthropologischer Zustandsbeschreibung des Rechts, um die Schwierigkeiten verständlich zu machen, denen ich mich im Anschluss zuwende.

Dass Juristen das Recht missbrauchen, ist aus ihrem Beruf heraus erklärbar. Aber dass eine Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger diesem Recht vertraut, um Probleme zu regeln, die damit nicht oder kaum erfassbar sind, das ist nicht akzeptabel. Die anthropologische Erfahrung bringt mich als Forscher dahin einzusehen, dass das Recht von dem wir behaupten, es sei im menschlichen Denken universell, nichts anderes ist als ein Konstrukt, das den jeweiligen zeitlichen und lokalen Gegebenheit entspricht und über mehrere Generationen getestet wurde (in Rom beispielsweise). Erst seit dem 17. Jahrhundert waren in Europa die Bedingungen gegeben, dass es sich verselbständigen und immer weiter spezialisieren konnte, um schließlich ein Bündnis zwischen Staat und Markt einzugehen. Derart gebunden an die politische und ökonomische Macht und im Zuge der kolonialen Abenteuer des 19. Jahrhunderts, hat sich dieses ursprünglich westliche Recht in der ganzen Welt verbreitet. Doch die Herrschaft der Waffen und des Kapitals kann nicht vergessen machen, dass für drei oder vier Milliarden unserer Zeitgenossen, das, was sich »Recht« nennt und mit dem modernen Staat Hand in Hand geht, nicht ihren eigenen Erfahrungen entspricht und stattdessen Misstrauen und Widerstand auslöst.

Menschheitsgeschichtlich gesehen ist das Recht nur ein »folk law«, eine lokale Interpretation eines Prozesses, der viel allgemeiner, aber weniger bekannt ist und den ich Rechtlichkeit nenne, »juricidité«. Wenn diese Rechtlichkeit wenig erforscht ist, dann weil es mächtige politische, ökonomische und ideologische Interessen gibt, die dies verhindern. Es sind dieselben, die nicht zulassen, das Commons positiv wahrgenommen werden.

Zudem gibt es ein Problem mit der Charakterisierung. Wenn das Recht autonom ist (Le Roy 2009) und jene, die es interpretieren, daraus normative Kategorien filtern und semantisch als Kategorien des Rechts behandeln können, rücken andere Erfahrungen (konfuzianische, indigene, muslimische, animistische und so weiter) zwar manchmal in deren Nähe, aber im Grunde bleiben sie heteronom28. Rechtlichkeit hingegen ist in und durch jene Praktiken identifizierbar, die nur dann im herkömmlichen Sinne rechtsfähig sind, wenn sie durch eine Autorität, die von der Gruppe ermächtigt wurde, zum Gegenstand von Sanktionen wurden.

Dieses scheinbare Fehlen formaler Anerkennung dessen, was Recht ist und was nicht, ist für europäische Gemüter, vor allem die cartesianischen, zutiefst beunruhigend. Sie neigen nämlich dazu, eine Art Verrechtlichung (»juridisme«) zu betreiben, wie Pierre Bourdieu (1986) das nennt. Darunter versteht Bourdieu die schlechte Angewohnheit von Ethnologen (und anderen), ständig juristische Regeln zu formulieren, Regeln also nach den jeweiligen Konventionen des Rechts auszurichten, wo im Grunde strukturelle Existenzbedingungen, zeitstabile Präferenzen und der Habitus dargestellt werden müsste.

Zwei Dinge sind daher unbedingt zu respektieren: nicht für Recht zu halten, was lediglich Normen sind, die vom Staat erlassen und anerkannt wurden (man nennt es »positives Recht«) und auch das Andere als authentische Hervorbringung rechtlich relevanter Phänomene zu behandeln.

Vom Recht zur »maîtrise« oder: Die Erkundung einer neuen Rechtsordnung

Zwei Innovationen wurden bereits zur Diskussion gestellt. Die erste hat zunächst eher Interesse als reale kritische Auseinandersetzung provoziert. Das ist wahrscheinlich einem gewissen Hochmut von Juristen geschuldet, die es wenig schätzen, in ihren Gewohnheiten gestört zu werden. Die zweite ist, wie wir sehen werden, noch unbequemer.

Die Idee, dass man ein Recht auf Land (»ius in re«) ausüben könne oder einen Anspruch auf Landzuweisung oder darauf, Gläubiger zu sein, hat sich in unseren Vorstellungen festgesetzt. So fest, dass es schwer fällt einzugestehen, dass auch dies nur ein spezifisches Produkt unserer Denkweise ist. Das Recht wird in diesem Denken autonom gesetzt, als etwas Eigenständiges aufgefasst und als Bedingung für die Autonomie des Einzelnen in der Gesellschaft verstanden. Den großen Abenteuern der Demokratie in England, Amerika und Frankreich liegen jeweils wichtige Erklärungen von Rechten zugrunde. Andere kulturelle Traditionen versuchen eher, den Menschen als Teil komplexer Netzwerke in seiner Interaktion mit und seinen Verpflichtungen gegenüber Anderen zu begreifen sowie in seiner Fähigkeit, diese Netzwerke zu mobilisieren. Um beiden Ansätzen gerecht zu werden, entscheide ich mich für ein interkulturelles Konzept, das der »maîtrise«, der Beherrschung im doppelten Sinne, das ich zunächst so definiere: »Der Begriff der maîtrise legt eine Macht und Kraft nahe, die denjenigen eine besondere Verantwortung verleiht, die sich ein Territorium mehr oder weniger exklusiv vorbehalten, weil sie tatsächlich von dem, was dort geschieht, betroffen sind. Der Begriff erlaubt es, Souveränität und Eigentum miteinander zu verbinden – die die Debatte um Landnutzung »rahmen« (…) –, indem er betont, dass Rechte und Verantwortung aus der konkreten Beziehung zum Raum (hier: Land, A.d.Ü.) entstehen können und dass diese Verantwortung im Kern erhalten oder gesichert werden muss« (Le Roy 1995: 489). Indem er anthropologische und interkulturelle Aspekte aufgreift, ermöglicht dieser spezifische Kontrollbegriff nach Catherine und Olivier Barrière, »ein System der Vermögensverwaltung sozio-ökologischer Beziehungen im Herzen der internen und externen Beziehungen der Gemeinschaften« anzusiedeln (Barrière und Barrière 2002: 315).

Der Begriff der »maîtrise« sowie mehr Klarheit über die Aneignungs- und Nutzungsformen der Ressourcen und ihrer gemeinschaftlichen Verwaltung befähigen uns einzuschätzen, was nach den Konventionen einer jeden Gruppe, Gemeinschaft oder Gesellschaft in einem spezifischen Moment ihrer Geschichte einer Commons-Logik entspringt und was nicht. Als wissenschaftliches Vorgehen stützt er sich nicht auf eine A-priori-Definition dessen, was Commons »in seiner Essenz« ist. Er schärft vielmehr unseren Blick für das, was Menschen teilen und rückt so Strategien gemeinschaftlichen Handelns ins Zentrum.

Zum Schluss

Commons in Alltag, Wirtschaft und Recht wieder lebendig zu machen erscheint wie eine Revolution, die entweder als Wiederentdeckung vorkapitalistischer und vorstaatlicher Organisationsprinzipien interpretiert werden kann oder als Bruch mit der aktuellen politischen Ordnung. Aber wird das der Sache gerecht?

Pierre Dardot und Christian Laval schreiben im Nachwort ihres bereits zitierten Werkes: »Commons sind die neue politische Rationalität, die die neoliberale Rationalität ersetzen muss« (Dardot und Laval 2014: 572). Sie setzen prometheische Akzente zur Größe dieser Idee von Revolution als Selbstinstitution der Gesellschaft: »Als Prinzip definieren Commons eine Norm der Nicht-Aneignungsfähigkeit. Das erfordert in der Tat, alle sozialen Beziehungen ausgehend von dieser Idee neu aufzubauen: Nicht-Aneignungsfähigkeit heißt dabei nicht, […] dass es unmöglich wäre, sich etwas zuzueignen, sondern, dass man es nicht aneignen soll. Dass es also nicht erlaubt ist, sich etwas privat anzueignen, weil es der gemeinsamen Nutzung vorbehalten ist« (ebd.: 583).

Es gibt keine gemeinsamen Güter, Commons können nur eingeübt werden.

Literatur

Alliot, M. (2003): »Modèles sociétaux: les communautés«, Le droit et le service public au miroir de l’anthropologie, Paris, Karthala, S. 73-78.

Appadurai, A. (2013): Condition de l’homme global, Paris, Payot.

Barrière, Catherine und Olivier (2002): Un droit à inventer. Foncier et environnement dans le delta intérieur du Niger (Mali), Paris, IRD.

Bollier, D. (2014): La renaissance des communs, pour une société de coopération et de partage, Paris, Éditions Charles Léopold Mayer.

Bourdieu, P. (1986): Habitus, code et codification, Actes de la recherche en sciences sociales, Band 64, September 1986, S. 40-44.

Dardot, P., und Ch. Laval (2014): Commun, essai sur la révolution au XXI° siècle, Paris, Le Découverte.

De Soto, H. (2000): The mystery of Capital. Why Capitalism Triumphs in the West and Failes Everywhere Else? Battman Press.

Hatzfeld, M. (2011): Les lascars, une jeunesse en colère, Paris, Autrement.

Le Roy, É. (1970): Système foncier et développement rural, essai d’anthropologie juridique sur la répartition des terres chez les Wolof ruraux de la zone arachidière nord, Sénégal. Diplomarbeit, FDSE Paris, Ronéo.

–– (1995): »Le pastoralisme africain face aux problèmes fonciers«, in: Daget, Philippe, M. Godron (Hg.), Pastoralisme; Troupeaux, espaces, sociétés, Paris, Hatier AUPELF-UREF, S. 487-510.

–– (mit A. Karsenty und A. Bertrand) (1996): La sécurisation foncière en Afrique, pour une gestion viable des ressources renouvelables, Paris, Karthala.

–– (1999): »Au delà de la relation public-privé, l’apparition de la notion de ›communs‹ dans les expériences actuelles de décentralisation administrative en Afrique francophone«, in: J. Rösel und T. von Trotha (Hg.), Dezentralisierung, Demokratisierung und die lokale Repräsentation des Staates, Köln, Rüdiger Köppe Verlag, S. 69-78.

–– (2009): »Autonomie du droit, hétéronomie de la juridicité«, in: Sacco, R. (Hg.), Le nuove ambizioni del sapere del giurista: anthropologica giuridica e traducttologia giuridica, Rom, Academia Nazionale dei Lincei, Atti dei convegni Lincei 253, S. 99-133.

–– (2011): La terre de l’autre, une anthropologie des régimes d’appropriation foncière, Paris, LGDJ, Sammlung: Droit et société, série anthropologie.

–– (2014) [2012]: »Sous les pavés du monologisme juridique, prolégomènes anthropologiques«, in: Parance et al., S. 81-101.

Parance, B., und J. de Saint Victor (Hg.) (2014): Repenser les biens communs, Paris, CNRS éditions.

Saïd M. (2009): Foncier et société aux Comores, Paris, Karthala.

Étienne le Roy ist emeritierter Professor für Rechtsanthropologie an der Universität Panthéon-Sorbonne, wo er zwischen 1988 und 2007 die Forschungsgruppe zur Rechtsanthropologie und zwischen 1993 und 2003 die Afrikastudien geleitet hat. Seit Mitte der 1960er Jahre widmete er sich Feldstudien zu Landrechtsfragen und -politik. Aus seinen zahlreichen Publikationen ist hervorzuheben: Le jeu des lois, (Das Spiel der Gesetze, Paris, LGDJ, 1999) als theoretischer Beitrag für eine »rechtsdynamische« Anthropologie sowie La terre de l’autre (Das Land des Anderen, Paris, LGDJ, 2011), eine Synthese seiner 40-jährigen Forschungsarbeit zu Landfragen.

1 | Diese Art postkolonialer Studien hat in Frankreich mit dem Ende der Kolonialzeit begonnen, einige Anthropologen wie Georges Balandier betrieben sie bereits in den 1950er Jahren.

2 | Bekanntlich beruht die Kolonialisierung des 19. Jahrhunderts auf der Vorstellung, dass es ein ständiges Voranschreiten der Entwicklung gibt und die westlichen Gesellschaften sich auf der Höhe derselben befinden. Der US-Amerikaner und Mitbegründer der Ethnologie, Lewis H. Morgan, mit seiner Studie Ancient Society, Or: Researches in the lines of human progress from savagery through barbarism to civilisation (Die Urgesellschaft oder: Untersuchung über den Fortschritt der Menschheit aus der Wildheit durch die Barbarei zur Zivilisation), erschienen 1877 (deutsch 1891) ist dafür ein typisches Beispiel.

3 | Siehe dazu auch den Beitrag von Arturo Escobar in diesem Band.

4 | Gemeint ist die Vorstellung, dass das Leben primitiver Völker, ähnlich wie das Leben in der Kindheit, »besser« ist und die Zivilisation es im Grunde nur zerstören kann (Anm. der Hg.).

5 | Claude Lévi-Strauss (1908–2009) ist Begründer des ethnologischen Strukturalismus und der wohl berühmteste französische Ethnologe. Eines seiner bekanntesten Werk ist Tristes Tropiques (1955, dt. Traurige Tropen), an dem seine erste Frau Dina erheblichen, aber ungewürdigten Anteil hatte. Bereits in dieser faszinierenden Beschreibung schriftloser Kulturen skizziert Lévi-Strauss selbige als Alternativen zur westlichen Zivilisation. Ein Gedanke, den er Anfang der 1960er Jahre in Pensée Sauvage (dt. Das wilde Denken) weiterentwickelt. Er hält traditionelle, ganzheitliche und mythisch erklärte Denkweisen den westlichen gegenüber durchaus für ebenbürtig. Sie seien nicht mehr oder weniger vernünftig, sondern schlicht anders. Le Roy bezieht sich hier auf die Lévi-Strausssche Analyse von Verwandschaftssystemen, die bereits 1949 erschienen ist. Darin ist die Grundidee formuliert, dass ein durch Heiratsregeln (Ge- und Verboten) gesteuertes Tauschsystem natürliche Verwandtschaften durch sozial verbindliche Allianzen ersetzt, aus denen gegenseitige Verpflichtungen hervorgehen (Anm. der Hg.).

6 | Der französische Soziologe und Ethnologe Marcel Mauss (1872-1950) begreift den Austausch in archaischen Gesellschaften, den er in Essai sur le don (zuerst 1923/24, dt. Die Gabe) analysiert, als »soziales Totalphänomen«, das über das Menschenbild des rationalen Homo oeconomicus und des auf ihm errichteten Wirtschaftsgebäudes hinausweist. Die Gabe behält bei Mauss – prinzipiell – Zwangscharakter. Sie produziert Schuld und erfordert eine Gegengabe. Das erlaubt Mauss, aufbauend auf diesem Konzept, die Prinzipien von Dienstleistung, Wohlfahrt oder Sozialstaat zu analysieren (Anm. der Hg.).

7 | Maurice Godelier (geb. 1934) gilt als Begründer der neomarxistischen Wirtschaftsethnologie. Er ist Spezialist für die Gesellschaften Ozeaniens und Forschungsdirektor an der École des Hautes Études en Sciences Sociales (EHESS) in Paris. Sein Hauptwerk La production des Grands Hommes erschien 1982 (Anm. der Hg.).

8 | In etwa: »Papier ist geduldig.«

9 | Dem Erscheinungsjahr des Essays The Tragedy of the Commons von Garrett Hardin im Wissenschaftsmagazin Sciene (Anm. der Hg.).

10 | Siehe dazu den Beitrag von David Sloan Wilson in diesem Buch (Anm. der Hg.).

11 | Im Französischen »loi sur le domaine national« (Anm. der Übers.).

12 | Léopold Sédar Senghor (1906–2001) war ein senegalesischer Dichter und Intellektueller, zwischen 1960 und 1980 Präsident des Landes (Anm. der Hg.).

13 | Zum Begriff der Resilienz vgl. Rob Hopkins: »Resilienz denken«, in: S. Helfrich und Heinrich-Böll-Stiftung (Hg.), Commons – Für eine neue Politik jenseits von Markt und Staat, transcript 2012, S. 45ff.

14 | Association pour la Promotion des Recherches et Études Foncières en Afrique.

15 | Entspricht der Zivilrechtsgesetzgebung in Deutschland (Anm. der Hg.).

16 | »Le droit de jouir et de disposer des choses de la manière la plus absolue […].«

17 | De Soto inspirierte die Liberalisierung von Grund und Boden in mehreren lateinamerikanischen Ländern. Zwar unterstreicht er in seinen Werken die Schwierigkeiten, die mit der allgemeinen Verbreitung des Privateigentums einhergehen, ignoriert aber deren tatsächliche Gründe (Le Roy 2011).

18 | Ein aktueller Band zum Thema wurde 2014 im Metropolis Verlag veröffentlicht, vgl. Dirk Löhr: Prinzip Rentenökonomie. Wenn Eigentum zu Diebstahl wird.

19 | Im Gegensatz zur Erfahrung im England des 16. bis 18. Jahrhunderts nützt die Einhegung hier nicht nur den Reichsten und den mächtigen Honoratioren, sondern sie wertet auch die gemeinschaftliche Bodennutzung in den Dörfern auf.

20 | Saïd (2009) erinnert an die Vielfalt konkreter Rechtsformen für Land, das gemeinsam, aber zu unterschiedlichen Zwecken genutzt werden kann. Das betrifft hochliegende Weideflächen so wie alte, koloniale Naturreservate, die wieder für den Obstbau in Frage kommen, oder ehemaligen Kolonialbesitz, der der Parfümproduktion vorbehalten war, die »manyaouli«, genauso wie matrilineare Vermögenswerte (in muslimischen Ländern), Fischereigebiete in den Lagunen und so weiter.

21 | Flacher Hügel, ehemals ohne Baumbestand (Anm. der Übers.).

22 | Im Original: »clauses de fermage«. Hier wird ein vorab festgelegter Fixbetrag an den Eigentümer gezahlt (Anm. der Übers.).

23 | Im Original: »clauses de métoyage«. Hier wird vorab festgelegt, welcher Prozentsatz der Ernte – die Hälfte bis zwei Drittel – an den Eigentümer geht, der in der Regel für die Produktionsinfrastruktur aufkommt (Anm. der Übers.).

24 | www.cirad.fr/ (Zugriff am 30. November 2014).

25 | Anlässlich des Wiederaufbaus nach dem 1. Weltkrieg Anfang der 1920er Jahre haben jene Bodengesellschaften, die auf ausländischem Kapital beruhten, vom psychologischen Schockzustand und der finanziellen Unabhängigkeit profitiert, um sich beträchtlicher Ländereien zu bemächtigen und deren Bewirtschaftung einer kapitalistischen Rationalisierungslogik zu unterziehen.

26 | Diese Einsicht wird auch von Carol M. Rose (1994) in: Property and Persuasion: Essays on the History, Theory and Rhetoric of Ownership, Boulder, Colorado, Westview Press, unterstrichen. Darin widmet sie sich der rechtlichen Anerkennung üblicher Landnutzungen im Mittelalter innerhalb feudaler Regime, etwa dem Recht der Commoner auf das jährliche Maibaumsetzen, das dem Eigentumsrecht des Feudalherren übergeordnet wurde (Anm. der Hg.).

27 | Ich nutze meist den Plural um eine Abstraktion zu vermeiden, die reproduzieren würde, was die dem philosophischen Idealismus verbundenen Positivisten tun: das »Gemeine« als ein Gut, als Objekt des Eigentums oder ähnlich Fiktives behandeln.

28 | Gegensatz zu »autonom« und damit fremdgesetzlich/fremdbestimmt, abhängig von fremden Einflüssen bzw. vom Willen anderer (Anm. der Hg.).