Unterwegs zu einer Gesellschaft des Gemeinsamen
Die Cooperativa Integral Catalana
Katalonien war die Wiege verschiedener Bewegungen – etwa der Genossenschafts- und Unabhängigkeitsbewegung, des Anarchismus und des Naturismus.1 Das prägte das Nachdenken über Gesellschaft in diesem Landstrich. Und es hat auch das Denken jener geprägt, die zur Integralen Katalanischen Kooperative (CIC) gehören, auch wenn diese keiner speziellen Denktradition verschrieben ist, vielmehr ihre eigenen Prinzipien diskutiert und danach handelt. Die Gründung der CIC zog auch aus anderen Ereignissen Kraft. Da war die Degrowth-Rundfahrt vom Frühjahr 2009, eine Radtour durch alle katalanischen Landkreise, um die Prinzipien eines Wirtschaftens jenseits des Wachstums bekannt zu machen. Oder die Flugschriften Crisis2, Podemos3 und Queremos4, die einen starken Einfluss auf die öffentliche Diskussion zur Selbstverwaltung und -ermächtigung hatten. Und schließlich entstanden spontan und an mehreren Orten zugleich viele Tauschnetzwerke (»ecoredes«5), die sogenannte »Sozialwährungen«6 nutzen.
In diesem Kontext gründete sich im Mai 2010 die CIC mit ihrem ersten »Versammlungstag«, dem »Jornada Asamblearia«, an dem sie einige Grundfragen klärte, fußend auf Entscheidungen nach dem Konsensprinzip. Die Versammlungstage gehören seitdem fest zur CIC. Sie sind offen und »nomadisch«, das heißt, sie finden immer an verschiedenen Orten Kataloniens statt, jeweils an einem Wochenende am Monatsende. So kann die Kooperative ihr nahestehende Projekte kennenlernen und sich dabei zugleich dezentralisieren. Die Versammlungen enden nicht selten mit einem improvisierten Konzert. Während der 47 Jornadas Asamblearias ging es um Fragen der Gesundheit, des Lebens in Gemeinschaft oder um die Prinzipien der Integralen Revolution.7
CIC begann auf Initiative nur einer Handvoll Aktivistinnen und Aktivisten, doch in den vergangenen Jahren wurden wir immer mehr. Die bunt zusammengewürfelte Gruppe ermöglicht es, dass sich alle Altersgruppen, Nationalitäten und Geschlechter begegnen. Egal ob Männer, Frauen, Behinderte, Mädchen oder Jungen – sie alle schaffen einen Raum für Zusammenhalt und Gemeinschaft. Diese Vielfalt bereichert unsere Debatten, und doch ist es schwierig, ihr wirklich gerecht zu werden. Es gibt (unbewusste) Macht- und Geschlechter-Beziehungen, so dass Frauen in ihre kulturell geprägte unterwürfige Rolle zurückfallen, während Männer Macht und Anerkennung als Männer suchen, oder die Männer greifen in der Regel technische Themen auf, während die Frauen sich mehr für soziale Themen engagieren. Auch das ist ein Thema für die Jornada Asamblearia.
Vieles entwickelte sich in diesen ersten Jahren rasant: Die Anzahl der Menschen und Gemeinschaften, die uns nahe stehen, jene der Mitglieder, der jährliche Haushalt, die Immobilien, die wir nutzen. Im August 2014 zählte die CIC 2.600 Mitglieder. Sehr aussagekräftig ist das nicht, denn um mitzumachen, muss man nicht Mitglied werden. Unser Haushalt stieg seit unserer Gründung von null auf 458.000 Euro. In nur 4 Jahren! Von den Immobilien, die wir vergemeinschaftet haben, ist Calafou die wichtigste. Wir verwandeln diese alte Industriesiedlung, die wir 2011 gemeinsam gekauft haben und seither renovieren, in eine postkapitalistische, öko-industrielle Siedlung.4 In Calafou leben heute 30 Menschen. Dort entstehen weitere Projekte, wie »Circe«, ein experimentelles Labor für die Seifen-, Essenzen- und Olitätenproduktion und ein Hacklab, in dem es um Wissenstransfer zu Themen wie Freie Software, Netzwerkadministration, die Verbreitung von Open-Source-Prinzipien oder Verschlüsselung beziehungsweise Sicherheit im Netz geht.
Die Struktur, über die wir die Grundversorgung der Gemeinschaft jenseits von Markt und Staat sichern, nennt sich »Sistema Público Cooperativista« (SPC). Die SPC ist keine Rechtsform, sondern sie besteht aus Arbeitsgruppen, die sich rund um verschiedene Themen organisieren, zum Beispiel Therapie, Bildung oder Lebensmittelproduktion. Jeder dieser Bereiche hat eine Werkstatt, die als Versammlungs- und Debattenraum verstanden wird. Alle Werkstätten sind autonom und genauso offen wie die Jornadas Asamblearias. Das Projekt »Lebendige Bildung Albada«9 ist dafür ein Beispiel. Dort beruht Lernen auf Erfahrungen. Familien mit Kindern arbeiten gemeinsam für die Weitergabe von Techniken und Fertigkeiten.10 Oder die Werkstatt für Gesundheit, in der sich Gesundheit als lebendiger Prozess versteht, der durch ein auf Gegenseitigkeit beruhendes gemeinschaftliches Finanzierungsmodell ermöglicht wird. Oder die Transport-Werkstatt: Dort wird alles gefördert, was die Notwendigkeiten reduziert, Menschen und Materialien zu transportieren. Auch die Selbstversorgung mit Treibstoff durch erneuerbare Ressourcen wie wiederaufbereitetes Pflanzenöl wird hier unterstützt. Oder unsere Ernährung, wo Produzierende und Konsumierende zusammenkommen und dabei zugleich ihr eigenes Zertifizierungssystem für ökologisch produzierte Lebensmittel schaffen. In einer weiteren Werkstatt geht es um Zugang zu gemeinsamem Wohnraum, beispielsweise durch Abtretungsverträge, Sozialmieten oder Spenden. Und nicht zu vergessen die Werkstatt für Wissenschaft, Technik und Technologie, wo Werkzeuge entwickelt werden, die wir für die Produktion benötigen. Intern sind wir zudem in Arbeitskommissionen organisiert, die eng miteinander kooperieren. Die einen widmen sich den Finanzen, die anderen den Projekten, oder sie kümmern sich um unsere Unterstützungsnetzwerke. Auch diese Kommissionen sind selbstverständlich offen. Sie sind zwar voneinander abhängig und auf gemeinsame Vereinbarungen bezogen, aber auf dieser Grundlage sind sie in ihren Entscheidungen autonom.
Zudem ist die CIC mit all jenen Gruppen der Bioregion verbunden, die sich selbst verwalten oder zu ähnlichen Themen arbeiten und dabei die Instrumente nutzen oder mitproduzieren, die wir als Gemeingut herstellen – wie das »IntegralCES«, ein computergestütztes Community Exchange System, das als Freie Software mit offenem Quellcode veröffentlicht wurde und mit dem wir alle Leistungen und Gegenleistungen innerhalb der CIC verrechnen; ihm gehören auch viele Tauschringe an. Oder der »Virtuelle Markt«, eine Verkaufsplattform im Internet für die produzierenden Mitglieder, die 2014 online ging. Eine ihrer Besonderheiten ist, dass dort auch mit Sozialwährungen gezahlt werden kann, genauso wie mit dem Euro oder mit Kryptowährungen.
All diese selbstorganisierten Systeme zusammen lassen sich in einer fraktalen Struktur darstellen. Das bedeutet, eine Gruppe kann in einem Kontext die Gesamtheit vertreten und zugleich in einem anderen Kontext nur einen Teil des Ganzen. In einer hierarchischen Struktur ist das unmöglich. Es geht darum, die für die Gruppe jeweils optimale Entscheidung zu suchen, basierend auf den Prinzipien der direkten Demokratie, Ökologie, Gleichberechtigung in Verschiedenheit, der menschlichen Entfaltung, Teamgeist, integralen Revolution und freiwilligen Einfachheit. Letzteres meint: Je stärker und aktiver eine Person in die CIC eingebunden ist und von ihr profitiert, desto weniger Geld erhält sie, da sie weniger Geld braucht. Schließlich setzen wir unsere gemeinsamen Mittel auch anders ein als das, was man gewöhnlich »Lohn« nennt. Während Entlohnung gemeinhin an Zeit, Anstrengungen und Verdienste gekoppelt wird, laden wir Menschen ein, sich in Arbeitsgruppen zusammenzutun und dabei ihren Erwartungen und Neigungen zu folgen; sie können die Gruppe wechseln oder auch an mehreren zugleich teilnehmen.
Das Ganze ist ein Prozess. Alles ist ständig im Wandel begriffen und hängt immer wieder neu davon ab, was die Beteiligten brauchen und was sie motiviert. Es geht in all diesen Prozessen auch um Vertrauensaufbau, der es jeder Person ermöglicht, sich der eigenen vitalen Bedürfnisse wie Ernährung, Wohnung, Transport und so weiter bewusst zu werden. Viele dieser Bedürfnisse werden durch das gemeinsame Projekt getragen werden und zwar unabhängig von den Stunden, die jede oder jeder Einzelne in die Kooperative steckt. Und auch unabhängig von der Verantwortung, die er oder sie trägt. Die Hauptversammlung entscheidet, wie die gemeinsamen Einnahmen an die Einzelnen verteilt werden. Diese Entscheidungen sind öffentlich zugänglich und transparent – wie alle anderen Entscheidungen der Hauptversammlung und wie die Sozialwährungsbilanzen auch. Gelingende Sozialbeziehungen beruhen auf Transparenz, aber auch darauf, dass jeder sich beteiligt, so gut er kann, dabei aufhört zu bewerten und sich für die eigenen Entscheidungen verantwortlich zeigt.11
Wer zur CIC gehört, bekommt zum Beispiel innerhalb der Kooperative steuerbefreite Produkte und Dienstleistungen – vom Brot über Englischkurse bis hin zu Klempnerarbeiten. Die Transaktionen außerhalb der Kooperative werden versteuert, was wiederum auf andere Weise von der Gemeinschaft getragen wird, denn wir nehmen das Recht auf Rebellion durch Nichtbefolgung der Steuerpflichten in Anspruch. Dieses Recht hat in unserer Geschichte eine Schlüsselstellung. Es legitimiert sich aus der Entscheidung der Hauptversammlung, sich selbst zum Souverän zu erklären. Uns erscheint es nicht kohärent, dass ein Staat, der indoktriniert und assistenzialistisch ist, darüber befindet, wie die Mittel eingesetzt werden, die aus den Steuern der Bevölkerung stammen. CIC hat die Legitimität des Verhaltens der spanischen Regierung nach der Finanzkrise von 2008 öffentlich deutlich angezweifelt. Die Regierung investierte Milliarden Euro von Steuergeldern für die Rettung von Banken und vollzog im Jahr 2011 aus unserer Sicht einen »finanziellen Staatsstreich« indem sie die Verfassung so änderte, dass sie den Finanzinstitutionen nutzt. Zugleich kündigten die Banken die Wohnungen von Millionen von Menschen, und die Regierung kürzte die Budgets für Gesundheitsversorgung, soziale Dienste und Arbeitslosenhilfe. Das kommt der Aufkündigung des Sozialvertrags zwischen dem Staat und den Bürgerinnen und Bürgern gleich. Die CIC ruft deshalb offen zum zivilen Ungehorsam auf, zur »Nichtbeachtung aller Gesetze und Regeln, die wir als ungerecht empfinden«. Wir schlagen vor, dass die Menschen ihre Steuern auf ein Treuhandkonto überweisen und damit der Regierung die Zahlungen zunächst vorenthalten, bis die Forderungen nach institutioneller Transparenz erfüllt sind. Damit machen wir deutlich, dass wir nicht einfach die gleichen Steuerschlupflöcher nutzen wie große Unternehmen. Zugleich leiten wir in einigen Fällen Steuern in Richtung Selbstverwaltung auf lokaler Ebene um, in Strukturen die aus der »M-15«-Bewegung erwachsen sind. Was wir nicht dem Staat zahlen, kommt also immer dem Gemeingut zu.
Unsere Finanzierung reicht von der Förderung der Produktion, über Mikrofinanzierungsplattformen wie Coopfunding12 – eine Website, die die gemeinschaftliche Finanzierung selbstorganisierter Projekte ermöglicht, zins- und gebührenfrei ist und nicht nur Euro zulässt – oder die Finanzkooperative CASX13, über die wir bereits 80.000 Euro einwerben konnten, bis hin zum beschriebenen zivilen Ungehorsam. Im Jahr 2014 ist es uns erstmals gelungen, komplett unabhängig vom staatlichen Bankensystem zu arbeiten. Das war zur Gründung des CIC noch undenkbar.
Wir haben viel erreicht, aber die größten Herausforderungen liegen noch vor uns, nicht als Cooperativa Integral Catalana, sondern als Menschen. Die Herausforderung besteht in dem, was wir »Integrale Revolution« nennen: sich miteinander in Netzwerken zu verbinden, sich gegenseitig zu unterstützen und anzuerkennen als Menschen und Gemeinschaften dieser Welt und uns mit allen auf einen Weg zu einer »Gesellschaft des Gemeinsamen« zu machen. Manchmal beschreiben wir es so: »Mit der Integralen Revolution ist es wie mit dem Brot. Es kann Weißbrot sein oder Vollkornbrot14. Dem einen hat man etwas entzogen. Das fehlt ihm jetzt. Das andere ist noch ›ganz‹, integral.«
1 | Der libertäre Naturismus zu Beginn des 20. Jahrhunderts kritisiert die Entwicklungsideen des Industrialismus als unmoralisch, sie würden die Menschen entfremden und die Erde zerstören. Zentrales Element des Naturismus ist der Glaube an eine natürliche Ordnung und an die Notwendigkeit, in Harmonie mit der Natur zu leben. Wichtige praktische Elemente sind Vegetarismus und Freikörperkultur (Anm. der Hg.).
2 | Crisis: einmalig publiziert am 17.9.2008, erschien in einer Auflage von 200.000 Exemplaren durch die Aktion des »katalanischen Robin Hood« Enric Duran, der sich insgesamt 492.000 Euro bei 39 spanischen Banken lieh, ohne die Absicht, dieses Geld je zurückzuzahlen. Stattdessen investierte er es in verschiedene soziale Projekte und den Druck dieser Zeitung: http://enricduran.cat/en/statements172013/ (Zugriff am 20. Oktober 2014).
3 | Podemos bedeutet: »Wir können«. Das Blatt in einer Auflage von 350.000 Exemplaren trug den Untertitel »Ohne Kapitalismus leben« und erschien am 17. März 2009. Darin ist zum ersten Mal von »Integraler Kooperativen« die Rede.
4 | Queremos bedeutet: »Wir wollen«. Das Blatt erschien am 17. September 2009 und stellte verschiedene Projekte vor.
5 | Siehe: http://ecoxarxes.cat/ (Zugriff am 20. November 2014).
6 | Sozialwährungen wollen staatliche Währungen nicht ersetzen. Sie zirkulieren in einem eigenen Bereich und werden gemeinschaftlich verwaltet. Die brasilianisch-argentinische Professorin Heloisa Primavera prägte den Begriff, um zu unterstreichen, dass offizielle Währungen einerseits »unsozial« wirken und andererseits nicht von den Nutzerinnen und Nutzern kontrolliert werden. Er wird heute von verschiedenen Akteuren mit unterschiedlichen Bedeutungen versehen. (Anm. der Hg.; Korrespondenz mit Heloisa Primavera am 20. August 2014).
7 | Siehe: http://integrarevolucio.net/ (Zugriff am 20. November 2014).
8 | Siehe: http://calafou.org (Zugriff am 20. November 2014).
9 | Siehe: http://albadaviva.blogspot.com.es/ (Zugriff am 20. November 2014).
10 | Siehe auch den Beitrag von Claudia Gómez-Portugal in diesem Band.
11 | Siehe dazu auch das folgende Interview mit CECOSESOLA (Anm. der Hg.).
12 | Siehe: www.coopfunding.net/ (Zugriff am 23. Februar 2015).
13 | Siehe: www.casx.cat/es/ (Zugriff am 23. Februar 2015). CASX bedeutet »Kooperative zur Sozialen Selbst-Finanzierung im Netz« (»Cooperativa de Autofinanciación Social en Red«) (Anm. der Übers.).
14 | Im Spanischen: »pan integral« (Anm. der Hg.).