Die Welt der Commons

Muster des gemeinsamen Handelns

Konvivialität

Marianne Gronemeyer

Ich erwarte mir nichts von Technologie, aber ich glaube an die Schönheit, die schöpferische Kraft und die überraschende Erfindungsgabe der Menschen, und darauf hoffe ich.

Ivan Illich

Diese schöpferische Kraft und Erfindungsgabe sind nicht, wie wir oft glauben, Hervorbringungen außergewöhnlicher Einzelhirne. Sie entspringen vielmehr einem kulturell geformten Miteinander, in dessen Dienst sie stehen. Und dieses Miteinander könnten wir zutreffend »Konvivialität« nennen.

»Konvivialität« ist, ähnlich wie »commoning«, noch ein Fremdwort, eines, das die Frage »Was heißt das denn?« auslöst. Zugleich steht es in der Gefahr, zum Allerweltswort zu werden, das sich umstandslos in das globalisierte »Uniquak« (Illich) einfügen lässt, welches die »Technokraten« zur Rechtfertigung ihrer Untaten erfunden haben und die »Alternativen« zur Verlautbarung ihres Widerstandes fleißig imitieren – und welches die Einen wie die Anderen mit Sprache verwechseln. Fast möchte man dieses schöne Wort unter Schutz durch Nicht-Gebrauch stellen, wüsste man nicht, dass das vergebliche Liebesmüh ist.

»Con-vivial« ist ein zweigliedriges Wort. Er besteht aus der Vorsilbe »con«, die dem lateinischen »cum« entspringt und »zusammen mit« heißt, sowie »vivial«, das seine Verwandtschaft mit dem lateinischen Verb »vivere« = »leben« leicht zu erkennen gibt.

»Conviva« ist der Tischgenosse; »Convivium« ist eine Gesellschaft geladener Gäste, ein Gastmahl, eine Tischgesellschaft; »convivere« bedeutet »zusammenleben«, »miteinander speisen«, und das englische Adjektiv »convivial« heißt »gastlich«, »fröhlich« durchaus auch im Sinne von »ein wenig beschwipst«. Für die Art des Miteinanderseins, die als »Konvivialität« bezeichnet wird, sind offenbar ein Tisch, um den man sich versammeln kann, ein Krug Wein, den man gemeinsam leeren kann, und ein Brot, das man miteinander teilt, ziemlich unabdingbare Utensilien, um ein gutes Gespräch zu führen. Der Tisch kann natürlich auch ein leeres Rund sein, um das die Versammelten sich auf den Boden hocken. Ivan Illich nennt noch ein weiteres Utensil: eine brennende Kerze. Denn: »Unser Gespräch sollte immer in der Gewissheit geführt werden, dass da noch jemand anderer ist, der an die Tür klopfen wird, und die Kerze steht für ihn oder sie. Das ist eine beständige Mahnung, dass die Gemeinschaft nie geschlossen ist« (Illich 2005: 177). Aber ist »Konvivialität« in diesem Sinne einladend? Oder wirkt sie eher wie eine Schwelle, über die man ins Stolpern kommt?

Vom Recht auf Gemeinheit1

Ivan Illich analysierte im Jahr 1981 die Schwierigkeit, die dieses Wort, »Gemeinheit«, nebst seinem Sinn bereitet, wie folgt: »So wie andere von Minne sprechen, um etwas zu sagen, wofür es kein Wort mehr gibt, so verwende ich hier das Wort Gemeinheit. Gemein entspricht dem lateinischen comunis und stammt aus der indogermanischen Wurzel *mei, »tauschen, wechseln«. Ursprünglich bedeutete *mei »was mehreren abwechselnd zukommt«, so wie heute noch die Alm, die All-me(i)nde. Es bedeutet den Anspruch einer Gemeinde oder Gemeinschaft auf die ihr eigene Art der Umweltnutzung. Daraus hat sich dann die Bedeutung »gemeinsam, gemeinschaftlich, allgemein« entwickelt. Bis ins frühe 17. Jahrhundert meint das Wort Gemeinheit ausschließlich diese Nutzungsrechte und ihre Subjekte; erst am Ende des Jahrhunderts erhält es eine abwertende Nebenbedeutung: »unheilig, gewöhnlich, alltäglich, roh, niederträchtig«. Was es ursprünglich meinte, ist vergessen. Nur in dieser letzteren Bedeutung hat das Wort bis in unsere Tage überlebt. In der Bedeutungsveränderung […] spiegelt sich die Umwertung des Daseins. Ich kann kein geläufiges deutsches Wort finden, mit dem ich die umweltbezogene Grundlage der Unterhaltswirtschaft so bezeichnen könnte, daß der Gegensatz zur Umweltnutzung im Dienst der Produktivität deutlich wird. […] Im Englischen kann ich bei solchen Überlegungen the commons den public utilities gegenüberstellen […]. Das deutsche Wort Allmende will ich dazu nicht in meinen Dienst zwingen. Es bedeutet zwar eine Art von Gemeinheit, bezieht sich aber zu sehr auf die ländliche Form der Nutzung, auf Wald und Wiese. Vom Recht auf die Allmende zu sprechen, wenn es mir eigentlich um die Wiedergewinnung von Nutzungsrechten an verschmutzten, zersiedelten, zerwalteten Relikten von Gemeinheiten geht, wäre zu eng.«2

Die Schwierigkeit, die dieses Wort nebst seinem Sinn bereitet, besteht weniger darin, dass es nicht einmal denjenigen geläufig ist, die im Fremdwörtergebrauch nicht ganz ungeübt sind. Sie liegt vielmehr darin, dass wir durch unsere Sprech- und Hörgewohnheiten vollkommen taub geworden sind für den guten Klang des Wörtchens »cum«, so wie wir durch unsere Lebensumstände und unsere Lebenspraxis unempfänglich geworden sind für dessen Bedeutung. »Com/Cum« ist eine sehr verbreitete Vorsilbe, die im Deutschen als »kom« oder »kon« erscheint. Doch die meisten Komposita, die damit gebildet werden, haben den alten Sinn in sein krasses Gegenteil verkehrt. Die Präposition »cum« die einmal ein ebenbürtiges Miteinander im gemeinsamen Tun bezeichnen konnte – als wolle sie die Bedeutung von »commoning« in drei Buchstaben fassen –, dient zunehmend dazu, ein scharfes, unerbittliches Gegeneinander im Kampf um Vorteile, Macht oder Einfluss zu beschreiben. Kon-kurrenten laufen nicht mehr zusammen, sie liegen im Krieg um knappe Ressourcen, das entsprechende englische »competition« bezeichnet nicht mehr ein gemeinsames Streben, sondern die Anstrengung, einander auszustechen. Kon-sens ist nicht mehr ein gemeinsam gestifteter Sinn, sondern eine verordnete Gleichheit. Kon-sum bedeutet nicht mehr, etwas gemeinsam und gründlich zu verbrauchen, sondern durch das, was man konsumiert, beneidenswert für andere zu werden. Kon-formität heißt nicht, sich in gemeinsamer Anstrengung eine Form zu geben, also sich miteinander und aneinander zu bilden, sondern zu beliebiger Verwertbarkeit in Form gebracht zu werden. Ich habe diese vier Beispiele für sinnentstellenden Wortgebrauch mit Bedacht gewählt. Sie repräsentieren die Zerstörungskraft der großen Monopole, die im Bund miteinander die Weltherrschaft angetreten haben: Die Ökonomie hält das Weltverteilungsmonopol und schürt die Konkurrenz um knappe Ressourcen; die Naturwissenschaft hat sich das Weltdeutungsmonopol unter den Nagel gerissen und fordert Konsens zu dieser Deutungshoheit; die Technik behauptet das Weltgestaltungsmonopol und richtet die Welt auf Konsumierbarkeit zu; und die Bürokratie erhebt Anspruch auf das Weltregelungsmonopol und rastet nicht, ehe nicht alles in verfahrensförmiger Konformität gleichgeschaltet ist. »Du sollst mit mir eines Sinnes sein und meiner Evidenz trauen«, sagt die Naturwissenschaft. »Du sollst Deinen Nächsten besiegen wollen«, sagt die Ökonomie. »Du sollst die Maschinen statt deiner arbeiten lassen, lass dich bedienen und versorgen«, sagt die Technik. »Vor allem sollst du nicht stören«, sagt die Bürokratie.

Aber: »Es gibt immer Orte zu finden, die leer von Macht sind. Die institutionelle Umklammerung des Lebens ist zu Anteilen Schein«, schrieb Peter Brückner über die Möglichkeit, ins Abseits zu gelangen, sogar unter der Bedingung des Nationalsozialismus (Brückner 1982: 16). Man müsste die Stirn haben, die Allmacht des Systems zu ignorieren. Es käme darauf an, seine enorme Macht zu erkennen, ohne sie anzuerkennen. Aber wo wären solche »Abseitse« zu finden?

Womöglich sind sie heute nicht mehr zu finden, sondern erst zu gründen. Das Abseits ist ein Ort für Deserteure. Der Deserteur ist der »Nicht-mehr-Mitmacher« par excellence; er ist Befehlsverweigerer, er entzieht dem Machthaber seine Mittäterschaft, indem er sich heimlich still und leise, vor allem aber unerlaubt von der Truppe entfernt. »Orte, leer von Macht«, entstehen dadurch, dass da Menschen sind, die sie mit ihrer Anwesenheit füllen, die sich in Konvivialität üben.

Noch widersetzt sich das Wort »convivial« seiner konsumistischen Verunstaltung und seiner Einverleibung in den Jargon. Noch ist »convivial« – so wie »commoning« – ein Stolperstein, der uns im Wege liegt, damit wir wachsam bleiben für die Vernebelung der Sinne und des Sinns durch die Verwüstung des kostbarsten Gutes, aus dem ein gedeihliches Miteinander erwachsen kann: unserer Sprache. Und Stolpersteine kann es in einer zunehmend eingeebneten Welt gar nicht genug geben, einer Welt, in der alle Schwellen, Grenzen und Hindernisse zum Verschwinden gebracht sind, damit alles wie am Schnürchen läuft, während gleichzeitig Mauern, Zäune und unüberwindliche Barrikaden aufgerichtet werden, um uns das Fremde und die Fremden vom Halse zu halten.

Konvivialität braucht eine anstößige Sprache, ohne die es keine Verständigung, sondern nur herbeimanipulierten »Konsens« gibt; eine Forschung, die eine persönliche und erfahrungsgesättigte Sprache spricht; eine Praxis, die nicht konkurriert, sondern kooperiert und teilt; eine Technik, die hilft, das Beste zu machen aus der Kraft und der Phantasie, die jeder besitzt.

Konvivialität ist gewaltlos, aber nicht zahm; sinnenfroh, aber nicht denkfeindlich; ohnmächtig, aber nicht kraftlos; geregelt, aber nicht bürokratisch; genügsam, aber nicht anspruchslos; gegenwärtig, aber nicht up to date; selbstbestimmt, aber nicht selbstgewiss; fremdbestimmt, aber nicht am Gängelband3; einfach, aber nicht simpel; ins Gelingen, aber nicht ins Siegen verliebt; auf Komplementarität von Verschiedenem, nicht auf Ausgrenzung des Anderen aus.

Commons sind entweder convivial – oder sie werden auch zu einer Spielart des globalisierten (und institutionalisierten) Gleichen.

Literatur

Brückner, P. (1982): Das Abseits als sicherer Ort, Berlin.

Cayley, D. (Hg.) (1992): Ivan Illich in Conversation, Ontario.

Illich, I. (2005): In den Flüssen nördlich der Zukunft, München.

Marianne Gronemeyer ist Erziehungs- und Sozialwissenschaftlerin; sie betrieb viele Jahre Friedensforschung und habilitierte zur »Die Macht der Bedürfnisse«. Sie ist Gesellschafts- und Kulturkritikerin in der Tradition von Ivan Illich.

1 | Kasten von den Herausgebern eingefügt.

2 | Illich, I. (1981): Recht auf Gemeinheit, rororo aktuell, Reinbek bei Hamburg, S. 7.

3 | Wenn ich fremder Bestimmung folge, dann kommt durch das Fremde meine Stimme zum Sprechen. Ein Akt der Gegenseitigkeit.