Vorreiter des freien Wissens: Public Library of Science
Der Genforscher und Nobelpreisträger Harold Varmus sowie zwei kalifornische Wissenschaftler, der Biochemiker Patrick Brown und der Biologe Michael Eisen, waren Ende der 1990er Jahre zunehmend frustriert über die mannigfaltigen Einschränkungen, denen sie sich gegenüber sahen, wenn sie wissenschaftliche Arbeiten teilen wollten.
Obwohl es die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sind, die langwierige und kostenintensive Forschung betreiben und zudem »peer reviews« erfahren, also eine Begutachtung durch unabhängige Gutachter aus dem gleichen Fachgebiet, halten die Verlage normalerweise die Verwertungsrechte an der Veröffentlichung ihrer Forschungsergebnisse in den kommerziellen Fachzeitschriften. Diese Zeitschriften wiederum werden für die weitere Forschung gebraucht, sind aber sehr teuer. In der Konsequenz können sich Bibliotheken die Abonnements wissenschaftlicher Zeitschriften oft nicht (mehr) leisten. Die Rechtslage erschwert zudem den Zugang, die Vervielfältigung und die Weitergabemöglichkeit für wissenschaftliche Beiträge und Forschungsergebnisse. Und das obwohl diese Publikationen häufig mit öffentlicher Finanzierung beziehungsweise an öffentlichen Hochschulen entstanden sind. In den USA liegt der Anstieg der Abokosten für Wissenschaftszeitschriften seit mehr als zehn Jahren über der Inflationsrate. Und allein die dortigen Universitäten geben derzeit mehr als zehn Milliarden US-Dollar jährlich für Abonnements aus. Sogar bestens ausgestattete Institutionen wie die Harvard University halten das auf Dauer für untragbar.1
Varmus und seine Kollegen starteten eine Online-Petition. Sie forderten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus aller Welt auf, keine Beiträge mehr für Fachzeitschriften zu schreiben, wenn diese nicht bereit seien, ihre Artikel entweder sofort oder nach wenigen Monaten bedingungslos und vollständig online zugänglich zu machen. Sie legten den Wissenschaftlern auch nahe, keine »peer reviews« mehr für solche Zeitschriften zu verfassen und sie auch nicht zu abonnieren.2
Die Reaktion kam schnell, und sie war überraschend. Mehr als 34.000 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus 180 Ländern unterzeichneten den offenen Brief. Es sollte sich aber bald herausstellen, dass sie sich in der Praxis nicht an ihre Petitionsziele halten konnten, weil es einfach zu wenige Publikationen gab, deren Herausgeber tatsächlich freien Zugang zu wissenschaftlichen Beiträgen anbieten oder erlauben würden.
Um diese Lücke zu schließen, gründeten Varmus und andere schließlich einen neues Verlagsunternehmen, das als Public Library of Science (PLOS) bekannt wurde.3 Die Idee war, den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern zu helfen, die Hoheit über ihre eigenen Forschungsarbeiten zurückzugewinnen. Dafür stellt PLOS ein »Open access«-Publikationsinstrument zur Verfügung, mit dem die Artikel dauerhaft für alle frei zugänglich sein sollen. Die Urheber behalten bei diesem Verfahren ihre Verwertungsrechte und versehen ihre Beiträge mit einer Creative-Commons–Namensnennung-Lizenz (CC BY), damit sie geteilt und weiterverwendet werden können. Das Projekt hatte im Grunde genommen eine Idee des bereits existierenden Biomed Central aufgegriffen. Der Verlag Biomed Central, der vom Londoner Unternehmer Vitek Tracz und anderen innovativen Verlegern der späten 1990er-Jahre geführt wurde, hatte ähnliche Ziele.
Seit seiner Gründung 2003 hat sich PLOS von einer Protest-Community zum weltgrößten Verlagsprojekt für einfach zugängliche und offen lizenzierte wissenschaftliche Inhalte entwickelt. Das erste Journal, PLOS Biology, war bald für die hohe Qualität seiner Artikel bekannt. Später folgten zunächst PLOS Medicine und anschließend vier weitere Zeitschriften, die sich mit Bioinformatik, Genforschung, Pathogenen und vernachlässigten Tropenkrankheiten befassten. Als diese erfolgreich auf den Weg gebracht waren, nahmen die Gründer wieder ihr ursprüngliches, ambitionierteres Ziel in Angriff: die Veränderungen in der Wissenschaftskommunikation zu beschleunigen.
Der nächste große Schritt war 2006 die Gründung von PLOS ONE, ein Wissenschaftsjournal, das alle Forschungsbereiche abdecken und gleichzeitig eine innovative Publikationsmöglichkeit für wissenschaftliche Arbeiten entwickeln sollte. Zum ersten Mal würde es keine künstliche Beschränkung der Anzahl der publizierten Beiträge geben. Einreichungen würden ausschließlich nach ihrer wissenschaftlichen Fundiertheit und technischen Qualität beurteilt werden und nicht nach der wahrgenommenen oder erhofften Außenwirkung (»impact«).
Normalerweise versuchen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler durch Publikationen in hoch-selektiven Zeitschriften ihr Ansehen zu erhöhen. Das führte mitunter dazu, dass das Prestige des Mediums wichtiger wurde, als die Qualität der Artikel selbst, was für Autoren und Verleger gleichermaßen unsinnige Anreize setzt, etwa eher ausgefallene Thesen oder Behauptungen auszuwählen als wissenschaftlich abgesicherte.
PLOS ONE hingegen veröffentlicht jede eingereichte Arbeit, die den Kriterien sachgemäß durchgeführter Forschung entspricht. Mit dieser Strategie wurde PLOS ONE bis 2010 zum weltgrößten Wissenschaftsjournal. Bald übernahmen alle größeren Verlage das »Megazeitschriften-Modell« von PLOS ONE und begannen, Journals mit einer großen inhaltlichen Bandbreite zu produzieren, ohne die Anzahl der Artikel künstlich zu begrenzen.
Wegen seiner größeren Leserschaft und der Vielfalt der eingereichten Texte war PLOS ONE bald auch Vorreiter in der Umsetzung eines akkuraten Peer-Review-Verfahrens. Es gehört heute zu den Fachpublikationen mit den strengsten Prüfkriterien für statistische Validität, ethische Grundsätze und Dokumentations-Richtlinien.
Anfangs finanzierte sich PLOS durch Spenden und Zuwendungen philanthropischer Organisationen, wie etwa der Gordon and Betty Moore Foundation oder der Bill and Melinda Gates Foundation (die mit den Gründern von Intel beziehungsweise Microsoft assoziiert sind). Im Jahr 2010 war die Bilanz zum ersten Mal ausgeglichen. Seither hat die Organisation jedes Jahr Überschüsse erzielt. PLOS hat sich zur Transparenz verpflichtet und gehört deshalb zu den ersten Organisationen, die detaillierte Angaben zu ihren Einnahmen und Ausgaben über die gesetzliche Informationspflicht für Non-Profit-Organisationen hinaus veröffentlichen. Im Jahr 2012 betrug der Umsatz aus den Publikationstätigkeiten mehr als 38 Millionen USD bei einem Gewinn von sieben Millionen USD.
Kaum konnte sich das Projekt selbst tragen, begann die Organisation, sich auf neue Innovationen in der Wissenschaftskommunikation zu konzentrieren. Bemerkenswert war das Projekt Article Level Metrics, ein Instrument, das Daten frei zur Verfügung stellt, um Wirkung und Weiternutzung einzelner Artikel detaillierter analysieren zu können.4 Bis dahin wurden wissenschaftliche Artikel eher nach der Reputation desjenigen Journals bewertet, in dem sie veröffentlicht waren.
Die Initiative zeigte Wirkung: Im Jahr 2012 erschien die »Erklärung von San Francisco zur Bewertung wissenschaftlicher Arbeiten« (Declaration of Research Assessment, DORA).3 Sie appelliert an Geldgeber, Institutionen und Herausgeber, wissenschaftliche Artikel nach ihrer ureigenen Qualität zu beurteilen und nicht an Faktoren wie dem Zitationsindikator einer Fachzeitschrift zu messen. DORA wurde bis Mitte 2014 weltweit von über 10.000 Personen und mehr als 400 Organisationen unterschrieben. Die darin enthaltenen Vorschläge ändern langsam aber sicher die Art der Bewertung von Forschungsarbeiten und damit letztlich auch die Entscheidungen über Einstellungen, Beförderungen oder Kündigungen.
Später richtete PLOS das Augenmerk auf die Forschungsdaten selbst. Sie sollten frei zugänglich sein, solange nicht ethische oder andere Bedenken dagegen sprechen. Zudem wurden neue Instrumente für eine strukturierte Evaluierung publizierter Artikel nach der Veröffentlichung entwickelt, um eine kontinuierliche Überprüfung der Genauigkeit beziehungsweise Fehlerfreiheit von wissenschaftlicher Publikationen zu unterstützen.
PLOS ebnete den Weg für massive Veränderungen in der Wissenschaftskommunikation, weil sie das wissenschaftliche Publizieren wieder als eine Art Commons denken konnte. Der Zugang zu Forschung und Forschungsergebnissen wird seltener begrenzt oder verzögert – und darüber wird schließlich auch die wissenschaftliche Vorgehensweise selbst lebendiger. Nicht minder wichtig ist, dass PLOS in einem Bereich, der inzwischen Tausende von Open-Access-Journale mit mehr als einer halben Million frei lizenzierter Artikel umfasst, stets als engagierte Anwältin und Anstifterin zur Innovation agiert.
1 | Siehe: http://isites.harvard.edu/icb/ icb.do?keyword=k77982& tabgroupid= icb.tabgroup143448 (Zugriff am 15. Januar 2015).
2 | Siehe: www.plos.org/about/plos/history/ (Zugriff am 15. Januar 2015).
3 | Siehe: www.plos.org (Zugriff am 31. März 2015).
4 | Siehe: http://article-level-metrics.plos.org/ (Zugriff am 31. März 2015).
5 | Siehe: https://en.wikipedia.org/wiki/San_Francisco_Declaration_on_Research_Assessment (Zugriff am 14. Mai 2015).