Die Welt der Commons

Muster des gemeinsamen Handelns

Urban Commons

Ein Streifzug durch Projekte der Stadtverbesserung

Jannis Kühne

Die sogenannten Urban Commons sind im Kommen. Und zwar weltweit. Dieser Eindruck drängt sich angesichts der zahlreichen Beispiele auf, die derzeit unter diesem Stichwort diskutiert werden. Dabei lohnt es sich genauer hinzuschauen. So vielfältig die Versuche einer Definition von Urban Commons ausfallen, so unterschiedlich sind die realen Prozesse dahinter. Das gilt auch für die Auswahl von Beispielen, die hier vorgestellt werden. Bei manchen Projekten wird die Partizipation in Stadtentwicklungsprozessen gefördert, andere bieten neue Ideen für das gemeinschaftliche Wohnen und kreieren dabei innovative Konzepte für eine Stadt von morgen. Wiederum andere streiten grundsätzlich um Teilhabe am öffentlichen Geschehen und bei der Pflege und Erhaltung urbaner Gemeingüter. Oft erfahren Gruppen für ihre Ideen Unterstützung – auch vom Staat. Oft wird auch – bewusst – gegen die Pläne von Behörden gearbeitet. Die beschriebenen Projekte lassen sich beliebig ergänzen; alle zeigen sie die Vielfalt der Ansätze für eine Praxis urbaner Commons.

SSM Sozialistische Selbsthilfe Mühlheim (Deutschland)

Die Sozialistische Selbsthilfe Mühlheim (SSM) ist ein selbstbestimmtes Wohn- und Arbeitsprojekt mit Tradition und Weitblick. Der Verein gründete sich – infolge einer Hausbesetzung – in einer alten Schnapsbrennerei im Kölner Stadtteil Mühlheim. Nach vier Verhandlungsjahren wurde mit der Stadt Köln ein Mietvertrag für die Gebäude der Brennerei abgeschlossen. Die dort befindliche Halle wird heute für Feierlichkeiten vermietet oder als Möbellager genutzt, denn die SSM bietet Wohnungsauflösungen an. Auch ein Second-Hand-Laden wird von der Initiative geführt. Die Gruppe, die stets darauf bedacht ist, nicht in politische oder finanzielle Abhängigkeiten zu geraten, entstand ohne Fördergelder und trägt sich heute selbst. Durch ihre zahlreichen Initiativen etwa für den Erhalt abrissbedrohter Gebäude, machte sich die Initiative nicht nur bei der Stadtverwaltung einen Namen, sondern auch in der Bevölkerung.

Seit der Gründung leben durchgehend etwa 20 Menschen auf dem Gelände. Der gemeinsame Raum ermöglicht ihnen ein selbstbestimmtes Leben ohne soziale Isolation. Gemeinschaft ist hierbei der Schlüssel, um der durchkapitalisierten, umweltverbrauchsintensiven und unsozialen Umwelt ein Gegenentwurf zu bieten. Dabei geht es nicht nur darum, dass die unmittelbar Beteiligten ihr Leben in die eigenen Hände nehmen, sondern die Gruppe formuliert auch Vorschläge in aktuellen Auseinandersetzungen zur Kölner Stadtentwicklung, etwa in der Debatte um den Abriss des Barmer Viertels.

Das Kürzel SSM könnte also auch für »gelebte Selbsthilfe und Solidarität Mühlheim« stehen. Doch wer seit 1979 gemeinschaftlichen Wohnraum bereitstellt und gerade jenseits des Jobcenters Arbeitsmöglichkeiten für Menschen schafft, die im Verwertungsdruck auf dem freien Markt durch das Raster fallen, darf sich getrost nicht nur Sozialistische Selbsthilfe nennen, sondern bekommt auch noch Preise von eher unerwarteter Seite! Im Jahr 2013 wurde die SSM vom Bundesverband deutscher Wohnungs- und Immobilienunternehmen als »Soziale Stadt 2012« ausgezeichnet. Was SSM zum Commons macht? Die Unabhängigkeit und Beständigkeit des Projekts jenseits von – wenngleich nicht ohne – Markt und Staat.

Garden City Letchworth (Großbritannien)

Das gemeinschaftliche Modell der 1903 gegründeten Garden City Letchworth besticht noch immer. Ebenezer Howards Idee der Gartenstadt spielte mit der Spannung zwischen Land und Stadt und nutzte dabei die Vorteile von gemeinschaftlichem Eigentum an Grund und Boden. Der zentrale Gedanke: Grundeigentum in den Händen der Gemeinschaft zu belassen, während (Wohn-)Gebäude an Einzelpersonen verkauft oder verpachtet werden können. Es ging zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts darum, Preissteigerungen in den Griff zu kriegen und der Landspekulation entgegen zu wirken. Howard beschrieb seine Ideen ausführlich in Tomorrow: A Peaceful Path to Real Reform, erschienen 1898. Die deutsche Fassung erschien 9 Jahre später unter dem Titel: Gartenstädte in Sicht.

Im Jahr 1903 erwarben die Gründer, Raymond Unwin und Barry Parker, in der Umgebung Londons 2.057 Hektar Land zu günstigen Konditionen und gaben es dann als Bauland an die Gemeinschaftsmitglieder frei. So kamen Menschen zu einem eigenen Dach über dem Kopf und zu Miteigentum an dem Grund, auf dem dieses Dach errichtet war. Durch die gemeinschaftsorientierte Eigentumsform konnten hohe Mieten bei gleichzeitig niedrigen Löhnen verhindert sowie Schulen oder Krankenhäuser finanziert werden.

Der Grundgedanke der Gartenstadt verlor in der weltweiten Nachahmung nach dem Zweiten Weltkrieg an Vollständigkeit und Kohärenz. Überall setzte sich ein Ideal vom »Wohnen im Grünen« durch – doch an die Stelle der gemeinschaftlichen Idee und des gemeinschaftlichen Grundbesitzes trat der Individualismus.

Aus der Garden City Corporation in Letchworth wurde 1995 die Garden City Letchworth Heritage Foundation, heute eine sich selbst tragende gemeinnützige Organisation. Die Grundstücke des zu Beginn geschaffenen Wohnraums sind noch immer in den Händen des Community Land Trusts (CLT). Heute leben mehr als 33.000 Menschen in Letchworth, auf dem Land, das dem CLT gehört.

Sowohl in Europa als auch in den USA sammeln derzeit zahlreiche Gruppen Erfahrung mit dieser gemeinschaftsbasierten, treuhänderischen Organisationsform. Sie berufen sich dabei häufig auf die Garden City Letchworth. »Es gibt tatsächlich einen Wind des Wandels und den Versuch, das Gartenstadtmodell neu zu denken und zu aktualisieren«, sagt der in Großbritannien lebende Land-Trust-Experte und Gemeinschaftsforscher Pat Conaty.

Bologna — Stadt der Commons (Italien)

In Italien wurde 2001 mit dem Artikel 118(4) das Prinzip der »horizontalen Subsidiarität« in der Verfassung verankert. Das Projekt »Città Bene Comune«, Stadt als Gemeingut, initiiert vom Labor für Subsidiarität (Labsus), dem Centro Antartide, der Stiftung Fondazione del Monte sowie der Stadtverwaltung von Bologna, versucht seit 2006 auf dieser gesetzlichen Grundlage die gemeinschaftliche Verwaltung städtischer Gemeingüter systematisch zu fördern. Zunächst experimentierte man mit drei verschiedenen Räumen: einem Platz, dem Internetportal der Stadt und einem öffentlichen Gebäude. Die Erkenntnisse flossen in ein Arbeitspapier für innovatives lokales Gemeingutmanagement ein. Dieses wurde nicht nur von prominenten italienischen Verwaltungswissenschaftlern, sondern auch von den Bürgerinnen und Bürgern Bolognas begutachtet. Zudem wird das, was Bologna derzeit ausprobiert, auch in andere Städte getragen, etwa nach Rom, Mantua oder auf die Insel Capri. Inzwischen erhielt das Projekt »Le Città dei Beni Comuni«1, Städte der Gemeingüter, eine Ehren-Medaille des italienischen Präsidenten.

City Repair Project Portland (USA)

Gemeinschaftssinn, Kommunikation und Teilhabe – diese Stichworte charakterisieren das City Repair Project. Es wurde 1996 in Oregons Hauptstadt Portland von Bürgeraktivistinnen und -aktivisten gegründet, die erfahren wollten, wie man sich zugleich als Teil einer Gemeinschaft fühlen und dem eigenen kreativen Potential freien Lauf lassen kann. Menschen sollten an Entscheidungen, die ihre unmittelbare Umgebung betreffen, beteiligt sein und die Zukunft der Gemeinschaft aktiv mitgestalten. Aus der Graswurzel-Initiative wurde bereits im Zuge des ersten Projekts – die Verwandlung einer Wohnstraßenkreuzung in einen öffentlichen Platz – ein stadtweit bekannter Akteur. Die Initiative gründet sich auf Freiwilligenarbeit. Sie organisiert temporäre und langfristige Platzgestaltungen, Installationen, Nachbarschaftsfeste oder Bildungsveranstaltungen. Und manchmal geht es auch einfach »nur« darum, nach 20 Jahren vom Nachbarn gegenüber endlich den Namen zu erfahren.

Vila Autódromo (Brasilien)

Die Geschichte der Siedlung Vila Autódromo in Rio de Janeiro ist eine Geschichte des Widerstands gegen Pläne der Stadtverwaltung. Die Siedlung existiert seit über 30 Jahren. Damals waren es Fischer und Geringverdienende, die am Rande der Lagune von Jacarepaguá ihre Hütten bauten. Obwohl ihnen die Nutzungsrechte in den 1990er Jahren formell übertragen wurden, konnte sich die Siedlung nie in Sicherheit wiegen. Zuletzt war sie massiv durch die Entwicklungen nach der Vergabe der Fußballweltmeisterschaft 2014 und der Olympischen Spiele 2016 bedroht. Immobilienprojektplanern fiel auf, dass sich die Vila Autódromo inmitten potentieller Luxusstadtteile befand, etwa der geplanten Erweiterung des Barra da Tijuca. Angesichts dieser Situation mussten die Anwohnerinnen und Anwohner ihre eigenen Kräfte mobilisieren. Mit Hilfe von Studierenden und Professoren staatlicher Universitäten erarbeitete der Anwohnerverein der Vila 2012 einen lokalen Entwicklungsplan, einen »Plano Popular«. Er enthielt Ideen »von unten« für eine bessere Infrastruktur, Renaturierungsmaßnahmen am Ufer der Lagune und eine bessere städtebauliche Qualität der Siedlung. Im Dezember 2013 gewann der Plan den Urban Age Award, der jährlich von der London School of Economics und der Deutschen Bank an kreative urbane Initiativen verliehen wird. Seit der Weltmeisterschaft und vor den Olympischen Spielen 2016 wurde die Siedlung immer häufiger Opfer einer aggressiven Stadtplanung und des repressiven Vorgehens des Staates. Im Juni 2015 hatten bereits 90 Prozent der Bewohner für eine finanzielle Kompensation auf ihre Häuser verzichtet oder sind in die von der Stadt errichteten Wohnungen gezogen. Auch wenn der Erhalt der Siedlung mit jedem Tag unwahrscheinlicher wird, haben die Bewohner bereits gezeigt: Die Gestaltung der Stadt sollte von ihnen und durch sie gedacht und geplant werden.

In Selbstverwaltung wohnen (Russland)2

Nach dem Zerfall der Sowjetunion wurde Anfang der 1990er Jahre in Russland fast der gesamte staatliche Wohnungsbestand privatisiert. Inzwischen sind circa 80 Prozent der Wohnungen in Privatbesitz, jedoch blieb die Verwaltung der gemeinschaftlich genutzten Substanz – vom Dach bis zu den Außenanlagen – meist entweder in staatlichen Händen, oder sie wurde an private Immobilienunternehmen übergeben. Diese kümmerten sich oft wenig um Instandhaltung und Sanierung. Heute benötigen Schätzungen zufolge etwa 40 Prozent der Wohnungen in Russland eine Generalsanierung. Im Jahr 2005 erließ die Regierung ein Gesetz, das es den Bewohnerinnen und Bewohnern ermöglicht, Mehrfamilienhäuser selbst oder über eine Wohnungsgenossenschaft zu verwalten.

Astrachan im Süden Russlands zählt 500.000 Einwohnerinnen und Einwohner. Die Bewohner der Elfte-Rote-Armee-Straße entschieden sich schon 2006 für die Selbstverwaltung ihrer Wohnungen. Die Institution dahinter nennt sich Sojus Schitelej3. In der Elfte-Rote-Armee-Straße wird ein Beitrag von 8,7 Rubel (circa 17 Eurocent) pro Quadratmeter und Monat für alle anfallenden Reparaturen und Instandhaltungsmaßnahmen eingesetzt. Ungefähr ein Fünftel der Wohnungen Astrachans werden selbstverwaltet, 1.900 Mietshäuser insgesamt. Ähnliche Initiativen existieren in Moskau, Sankt Petersburg, Sotschi und in vielen kleineren Provinzstädten. Selbstverwaltung ist einerseits eine gute Alternative zur oft korrupten privaten Immobilienverwaltung, andererseits hilft sie auch, der Enteignung von angrenzenden Grundstücken entgegenzuwirken – wie die Grünflächen zwischen den Plattenbauten, die oft als Baugrund für hochpreisige Hochhäuser gehandelt werden. Die Regierung Putin stellt sich gegen diese Form von Selbstverwaltung. Sie würde das Gesetz von 2005 gern kippen und nur noch Wohnungsgenossenschaften und private Verwalter zulassen. Dadurch ginge die in der Selbstverwaltung übliche Einzelhaftung der Bewohner verloren und die Gemeinschaften würden anfälliger für Betrug und Unterschlagung der Beiträge. Was diese Diskriminierung selbstverwalteter Ansätze konkret heißt, zeigt sich an den Zahlen. Im Jahr 2007 wurden von der Regierung 280 Milliarden Rubel für die Sanierung von Mehrfamilienhäusern versprochen. Diese Gelder gingen jedoch bislang nur an Häuser, die von privaten Immobilienunternehmen und Genossenschaften verwaltet werden. Selbstverwaltete Projekt erhielten keinen Rubel.

Jannis Kühne studiert Urbanistik an der Bauhaus Universität in Weimar und forscht zum Thema Urban Commons.

1 | Silvia Bignami: »Bologna Bene Comune«, in: Repubblica, 12. Februar 2014, http://bologna.repubblica.it/cronaca/2014/02/12/news/bologna_bene_comune_e_napolitano_benedice-78319370/ (Zugriff am 2. Juni 2015).

2 | Siehe auch: https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/heisse-sanierung-fruh-um-funf (Zugriff am 7. Oktober 2014).

3 | Sojus bedeutet »Rat«. In Astrachan gibt es unter dem Dach dieser russlandweiten Organisation 200 Hausgemeinschaften.