Wirklichkeit als Allmende
Eine Poetik der Teilhabe für das Anthropozän
Was also ist eine Philosophie der Bezogenheit? Etwas Unmögliches, solange sie nicht als Poetik gedacht wird.
Edouard Glissant
Die Welt als Bewusstsein
Bei Sant’Andrea leckt das Meer über die Felsplatten, die den Rand der Insel Elba bilden. Die Wogen, glatt wie Fischbäuche, schiefergrau, weiß und aquamarin, fransen auf dem Stein in flüssige Scherben aus. In der Ferne, im Dunst kaum sichtbar unter einem Fächer von Lichtfingern, liegt Korsika. Das Wasser, das die Steine streichelt, der rundgeleckte Fels, der Wind, der die Haare rauft, die Vögel, vorbeigetrieben und wieder verloren, verbinden sich in einem gemeinsamen Tanz. Wir sind Commoners einer Allmende der Wahrnehmung, aus der die eigene Erfahrung, die eigene Identität und die der Welt erst hervorgehen.
Unsere Identität entsteht durch das, was wir nicht sind: durch Eindrücke und Berührung, durch einen Austausch mit dem, was Stein ist und Wasser, was Molekül ist und Lichtquant: al das, was sich in die Energie des Körpers verwandelt. Unsere Existenz in einer von Leben erfüllten Ökosphäre ist immer schon Gemeingut, bevor sie Individualität wird. Jedes Individuum ist der Welt zu eigen und zugleich ihr Besitzer, Eigner des rauen Steins, gefleckt von den Wellen, vom Wind gezaust, von Strahlen gestreichelt.
Alle Wahrnehmung ist Commons, ist vorübergehendes Ergebnis eines Tanzes in gegenseitiger Abhängigkeit und gemeinsamer Kreativität mit der Welt. Die Welt gehört uns ganz, und zugleich sind wir ihr vollständig anheimgegeben. Erst durch diese Gegenseitigkeit ist Erfahrung möglich, weil sie die Voraussetzung für die Existenz als lebendes Wesen in einem miteinander verflochtenen Ganzen darstellt.
Diesseits des Humanismus
Derzeit erleben wir eine epochale geistesgeschichtliche Revolution. Ein neues Selbstverständnis entwickelt sich, welches die Moderne und die in von ihr gedachte Scheidung der Welt in menschliche Kultur und materielle Natur abzulösen versucht und damit erst jetzt die Rationalität der Aufklärung hinter sich lässt. Das neue Denken ist noch im Fluss, vielfach ungeformt. Seine Varianten hören auf eine Reihe von Namen, darunter etwa »Anthropozän«, »Posthumanismus« oder »Metahumanismus«.
Allen Denkrichtungen ist gemein, dass sie versuchen, das Mensch-Natur-Verhältnis neu zu ordnen und so das Humane anders zu erfassen. Ihre Vertreter, etwa die italienische Philosophin und Schriftstellerin Francesca Ferrando, sehen eine »dringende Notwendigkeit, das Humane vollständig neu zu definieren« (Ferrando 2013: 26; siehe auch Wolfe 2009). Dieses andere Denken ist dabei, das Bild unserer selbst und der Welt, deren Teil wir sind, zu verändern. Wir befinden uns somit nicht nur in einer wirtschaftlichen oder sozialen Umbruchzeit, sondern auch in einer Krise unseres Selbstverständnisses.
Die Metaphern, mit denen wir unsere Rolle in der Welt beschreiben, sind nicht länger adäquat. Ein neuer Diskurs hat begonnen, in seiner Tragweite vermutlich bedeutender als die Idee der Postmoderne und vielleicht nur mit dem Aufkommen der Aufklärung und den dramatischen Änderungen der sozialen und politischen Ordnung in ihrem Gefolge zu vergleichen. Schon sind die Bereiche von Politik und Ökonomie dabei, sich neu zu ordnen: Wenn wir die Welt nicht mehr in der Dualität von »menschlichen Akteuren« und »natürlichen Ressourcen« betrachten, verschwinden die Grenzen zwischen dem, was verteilt wird, und denen, die das Verteilte verbrauchen.
In einer solchen Perspektive kann die Sozioökonomie nicht länger die klassischen Ziele effizienter Zuteilung und gerechter Verteilung verfolgen, weil Produzenten und Konsumenten oft die gleichen sind, und weil das, was konsumiert wird, nichts Unabhängiges ist, sondern Teil der eigenen Existenz. Eine verwüstete Landschaft ist nicht irgendwo »da draußen« in einer Black Box, sondern sie ist zugleich auch der seelische Raum ihres Nutzers. Diesen Zusammenhang können wir in den vielen neu entstehenden Commons, etwa Wikipedia, erfahren, aber er besteht auch in den traditionellen, vor allem naturbezogenen Allmenden.
In der Epoche des Anthropozäns und des daran gebundenen posthumanistischen Denkens bildet sich somit eine neue Metaphysik des Haushaltens heraus, in der die gegenseitige Verbindung von Materie, Stoffwechselprodukten und Bedeutung rearrangiert wird. Das ist eine einzigartige Gelegenheit, den Dilemmata der Moderne zu entkommen und unsere Existenzbedingungen neu zu erfassen. Auf der Suche nach einem Verständnis dessen, was das Humane sein wird, lösen viele die Trennungen zwischen Mensch und Materie, Natur und Kultur, Körper und Geist auf, die seit der Aufklärung unser Selbstverständnis dominierten. Sie gehen Schritte hinaus aus dem Dualismus und seiner Annahme, die Welt sei Ressource, und der angemessene Umgang mit ihr die Routine eines liberalistischen Wirtschaftssystems. Die alten Schranken, an denen ein wohlwollenderes Verhältnis zur belebten Welt und der Menschen untereinander scheiterte, so scheint es, könnten fallen oder zumindest verschoben werden.
Diese Krise bietet daher die seltene Chance, zu einem ausgeglicheneren Verhältnis von Mensch und Erde zu kommen, als es im Denken der Trennung möglich war. Aber werden wir nach der Epoche der Trennung, die die letzten Jahrhunderte bestimmte, eine heilsame Balance finden? Wir sollten verhindern, dass eine weitere toxische Utopie die vorherige ablöst. Freilich steht gerade das zu befürchten. Wenn aus dem derzeitigen Wettstreit der Sichtweisen eine neue Anthropozentrik hervorgeht, wird diese die Naturgeschichte endgültig unter ihre Herrschaft zu bringen suchen, indem sie das Biologische allein aus der Perspektive kausaler Machbarkeit und steigender Effizienz versteht und das Humane aus dem Cyborg ableitet – so wie es manche Vertreter des »Anthropozän«-Denkens zu meinen scheinen.
Kann es demgegenüber gelingen, eine umfassende Ontologie schöpferischer Lebendigkeit zu entfalten, die den Menschen enthält und umfängt? Es ist dafür essentiell, die Denkkategorien der Aufklärung, die noch immer unsere Weltvorstellung und auch unsere politischen Wertesysteme bestimmen, hinter uns zu lassen. Es geht nämlich darum, Momente eines lebendigen Humanismus wieder zu finden, welche von der rationalistischen Schubkraft westlichen Denkens verbannt worden sind. Bislang freilich enthalten die Theorien des Anthropozäns und des Posthumanismus kaum eine Perspektive schöpferischer Lebendigkeit, so meine Diagnose. Sie folgen nach wie vor der Idee, dass die Welt richtig verstanden wird, indem wir sie als einen physikalisch inerten Körper denken, und dass sie vor allem menschliche Pflege und Kontrolle, »stewardship« (Marris 2013) brauche, um ihr volles kreatives Potential zu erfahren.
Ich widerspreche hier diesem Glauben, nicht nur indem ich jene Dimensionen wieder in den Vordergrund stelle, die seit der Aufklärung zunehmend verloren gegangen sind: die radikale philosophische Perspektive und Praxis der Commons, ohne die die menschliche Verbindung zur Natur und überhaupt zur Wirklichkeit nicht verstanden werden kann. Sondern ich versuche auch, eine neue Sicht auf die grundlegenden Entfaltungsprozesse von Wirklichkeit und damit Sinnstrukturen zu skizzieren, die immer wieder an den Bruchlinien der Aufklärung in den Blick kam, aber nie vollständig formuliert geschweige denn systematisch als eine Anthropologie entfaltet wurde. Diese andere Sicht hat immer wieder gefunden, dass Welt ein beständiger Entfaltungsprozess bedeutungsvoller, existentieller Beziehungen ist, in der Akteure untereinander, durch Sachen, durch Ideen, und Ideen durch ihre Verwendung beständig schöpferisch neue Wirklichkeit herstellen (Weber 2014). Wirklichkeit ist keine Erfolgsgeschichte, die sich in Dienst nehmen lässt, sondern eine der Passionen, der Innovationen, der Verbindungen – der Zunahme von Tiefe, nicht der von Effizienz.
Diese Perspektive ist eine Absage an jede Idee der objektivierenden Kontrolle und ordnenden Separation. Die Wirklichkeit, aus der wir stammen und die wir beständig herstellen, ist lebendig: Sie ist selbst ein Commons und muss als solches verstanden und behandelt werden. Sie bildet sich aus der beständigen gegenseitigen Verwandlung von verschiedenen Perspektiven, Akteuren und Dingen in- und durcheinander. Erst unter dieser radikalen Blickveränderung können wir an die epochale Umbruchzeit mit einer neuen Erzählung anschließen.
Commons verstehe ich hier somit nicht als das exotische Nischenarrangement in einem ansonsten nach Objektivitätskriterien funktionierenden ökonomischen System, sondern vielmehr als das bestimmende Prinzip, dem gemäß sich Wirklichkeit in schöpferischem Austausch ihrer Teilnehmer ständig neu erschafft. Sie sind damit zunächst eine Matrix von Beziehungen, durch die sich die Lebendigkeit in Ökosystemen entfaltet, die die Naturgeschichte kennzeichnet. Materielle und sinnstiftende Aspekte sind darin nicht systematisch geschieden, sondern immer zwei Aspekte des Gleichen. Commons (oder Allmenden) lassen die Lebendigkeit biologischer und menschlicher Gemeinschaften aus einer Perspektive der Partizipation, des Tausches von Gaben und der Untrennbarkeit von Akteuren und Aktionsraum entstehen. Lebende Teilnehmer bringen einander durch Beziehungen (Stoffwechsel, Räuber-Beute-Verhältnisse, Eltern- und Paarbeziehungen) hervor und produzieren dadurch nicht nur ihren Lebensraum, sondern auch die eigene Identität (Weber 2014). Jedes Commons ist ein Rhizom – ein materielles und informelles Netz von Lebendigkeitsbezügen, das, indem es geknüpft wird, sich dauernd verändert.
Die Perspektive der Commons beschreibt demnach eine sowohl ökonomische als auch ökologische Ontologie der Bezogenheit. Sie betont einen Prozess der Transformation und Identitätsbildung aus einer materiellen und emotional erlebten Gegenseitigkeit. Dieser Prozess umfasst, was jüngst von Alain Caillé et al. als »Konvivialität« beschrieben wurde – eine »Kunst des Zusammenlebens (»con-vivere«)1, die die Beziehung und die Zusammenarbeit würdigt und es ermöglicht, einander zu widersprechen, ohne einander niederzumetzeln, und gleichzeitig für einander und für die Natur Sorge zu tragen« (Caillé et al. 2014: 47).
Im Folgenden versuche ich, eine Perspektive auf die Wirklichkeit mit einem alle Menschen und alle anderen Geschöpfe verbindenden Gehalt zu füllen. Commons sehe ich dafür als Bezugsrahmen. Ich versuche, ein Denken des schöpferischen Austauschs zu entfalten, das aus dem Gegensatz zwischen den Kategorien Kultur und Natur heraustritt. Die Wirklichkeit besitzt einen objektiven, empirischen Gehalt und eine subjektive, erfahrbare Dimension und verwebt stets die materielle Dimension mit Wahrnehmung und Erfahrung.
Ich bezeichne diese Perspektive – in Abgrenzung zur technischen Rationalität der Aufklärung (des »Enlightenment«) – als Enlivenment (Weber 2015). Unter »Enlivenment« verstehe ich eine Ontologie und Praxis der Lebendigkeit, welche zugleich physikalisch und abstrakt fassbar ist und sowohl wissenschaftlich als auch spirituell erfahrbar: Eine »Ökologie in der Ersten Person«, die sich in empirischer Subjektivität erfahren und in poetischer Objektivität kommunizieren lässt. Die Gleichzeitigkeit dieser Dimensionen ist dabei nicht der Schwachpunkt, sondern das entscheidende Scharnier. Sie ruft Menschen dazu auf, sich als Subjekt einer sich entfaltenden Naturgeschichte der Freiheit und damit in Verwirklichung von Selbstheit-in-Verbundenheit zu erfassen.
Die Anthropozän-Hypothese als Kommodifizierung des Schöpferischen
Dieses Bild einer schöpferischen Wirklichkeit ist heute möglich. Es ist immer wieder in der Geistesgeschichte begonnen und doch nie ausgestaltet worden. Dabei löste es auf einen Schlag die quälendsten Dilemmata unserer Zeit, welche in der Konkurrenz zwischen der »ökologischen« und »sozialen Frage« liegen und in der nach wie vor ungeklärten Rolle, auf welche Weise unsere Zuschreibungen von Wert von der Wirklichkeit legitimiert und mit unserer subjektiven Innerlichkeit und der anderer verbunden sind.
Die gegenwärtigen Versuche, Mensch und Natur als verbunden zu denken, wie sie im Rahmen der Anthropozän-Hypothese entstehen, verschenken aber weitgehend die radikale Position einer solchen neuen Ökologie der Bezogenheit. Viele Denker argumentieren vielmehr so, als wäre der Dualismus deshalb am Ende, weil der Mensch restlos alle Urwüchsigkeit im Rahmen eines phänomenalen Buy-Out übernommen habe. Sie betonen, dass die menschliche Spezies mit Hilfe der Technik die Lücke zwischen sich und der Natur überbrückt habe. Sie sehen in der »Natur nicht länger eine Kraft […], die den Absichten des Menschen fern liegt oder entgegengesetzt ist […] Sie ist Teil eines globalen Kulturprozesses. Die Menschheit formt die Natur, und daher sind Menschheit und Natur ein und dasselbe« (Bilgrami 2013). In dieser Sichtweise hat sich der Abstand zwischen Natur und Kultur aufgelöst. Aber nicht im Sinne der Idee einer Allmende der Wirklichkeit, sondern mittels ihrer endgültigen und absoluten Einhegung, indem Technologie alle Natur überformt, und eben auch unsere emotionale Fähigkeit, sie als unser gemeinsames Lebendiges zu erkennen. Indem wir die Natur nicht nur als vornehmlich durch Kultur und Technik geformt verstehen, vollenden wir die Kolonialisierung des Urwüchsigen, von der die abendländische Kultur jahrhundertelang träumte. So gewendet, erweist sich das Anthropozän-Denken als Prototyp der Einhegung. Es bringt das, was sich selbst gehört, was sich selbst organisiert und sich selbst hervorbringt, unter die Kontrolle der technischen Kreativität. Es umgreift Natur, aber auch alles, was im Menschen selbst sich von allein organisierende und allein heilende Urwüchsigkeit ist – das »Wilde«
Von hier ist es nicht mehr weit bis zur auch physischen Umwandlung zur »commodity«, in eine Ware also, die unsere Interessen zur Disposition stellt. Das geschieht ja erfolgreich bereits seit Jahrzehnten in einem Prozess, der das Nutzen anderer Wesen nicht als notwendigen Teil eines Stoffwechsels versteht sondern als deren Erhöhung in den Kreis des Gemachten und Kulturellen. Aber das, was gemeinhin als »Ausbeutung« beschrieben wird, und was im herkömmlichen Denken, das sich seiner Einhegung nicht bewusst ist, nach Schutz ruft, ist eben bereits die Folge einer existentiellen Gebrochenheit. Diese versagt sich selbst das Recht, in selbstverständlichem Austausch mit der Wirklichkeit zu stehen und alle Instrumente und Vermögen (einschließlich dem zu Glück und Entsetzen) dazu geschenkt zu erhalten. Ganz so, wie ein gebrochenes Kind sich den Wunsch nach Freiheit unbewusst selbst versagt und seine eigenen Schützlinge einst mit Versklavung peinigen wird. Die Einhegung ist unser destruktivstes Introjekt. Die Besessenheit des Anthropozäns mit menschlicher Weltgärtnerschaft verspricht bislang nicht, dieses zu heilen.
Dualismus als Kolonialisierung der Seele
Wir sollten verstehen, dass der Dualismus keine gutartige Abstraktion ist, sondern eine unsere Vorstellungen dominierende Kraft, die den Menschen von der Erfahrung schöpferischer Realität abzuschneiden vermag. Er liegt dem Ethos der historischen Aufklärung zugrunde, dass die Welt nur mit Hilfe der Vernunft ein bewohnbarer Ort werden könne. Dieser Gedanke ist wiederum die Basis für die Logik des Marktes. Auch das liberalistische Denken, das zwischen Ressourcen, mit denen gehandelt wird, und Subjekten, die handeln bzw. die versorgt werden wollen, trennt, ist ein Produkt dieses Dualismus. Er stellt eine Methode zur Verfügung, Kontrolle herzustellen, indem er die Welt zweiteilt: in eine unbelebte, also zu beherrschende Sphäre und eine, von der aus und für die Kontrolle hergestellt werden soll.
Unter diesem Blickpunkt besteht zwischen Einhegung, Kommodifizierung und Kolonialisierung kein Unterschied. Jeder dieser Begriffe bezeichnet nicht nur einen Angriff auf Ressourcen, die allen gehören, sondern zugleich auf die seelische Identität, die mit diesen Ressourcen in Verbindung steht und die auf sie angewiesen ist. Es ist ein Angriff auf unverfügbare und unverstehbare Lebendigkeit – und damit auf die Wirklichkeit selbst.
Die Praktiken konzeptueller Einhegung verneinen präventiv die Existenz eines unverfügbaren Anderen und vereiteln daher, reale subjektive Erfahrung und Verbundenheit mit nichtmenschlicher Lebendigkeit überhaupt zu denken. Dieses Andere ist nicht allein die Natur oder der Mensch fremder Kulturen. Es ist die Erfahrung, dass es eine Dimension gibt, die nur gelebt werden kann – und die sich nicht in rationaler Begrifflichkeit auflöst. Dieses Andere ist die Domäne leiblich erlebter Wirklichkeit, die aller Konzeptualisierung und Kolonialisierung vorgeht: das Glück beim Anblick der aufgehenden Sonne, eines jungen Hundes, eines geliebten Partners, die Dimension des Sinns bei einer Arbeit, die nicht allein mir, sondern allem zu Gute kommt. Es ist die Domäne dessen, was Manfred Max-Neef als »Human needs« katalogisiert (Smith und Max-Neef 2010).
Einhegend ist ein Denken, dass diese Unverfügbarkeit aufgibt und sie der »Rationalität«, der »Stewardship«, der Empirie, Diskursivität und Kontrolle unterordnet. Seinen Gipfel findet es in der lange Zeit den gesellschafts- und kulturkritischen Diskurs dominierenden Position, es gebe keine Natur und auch keinen Körper. All das sei allein kulturell erzeugt. Die unsere Kultur dominierende Erklärung, die Erfahrung selbstschöpferischen Werdens sei von Kulturtechniken bestimmt, und die komplementäre Unterstellung, jeder Einspruch zugunsten einer dem Menschen unverfügbaren, aber ihn dennoch durchdringenden und von ihm wahrnehmbaren Macht sei naiv, ist konzeptuelle Machtübernahme, die keinen Fluchtraum lässt. Es ist mentale und spirituelle Einhegung.
Der Turiner Philosoph Ugo Mattei meint, dass bereits die Aufteilung der Welt in Subjekt und Objekt zur Kommodifizierung beider führe (zit. n. Bollier 2014). Diese Kommodifizierung im Geiste schlägt sich auch auf einer realen und politischen Ebene nieder. Die Natur wird aus der menschlichen Welt vertrieben, obwohl sie alles produziert, was wir essen, und obwohl sie der Ursprung schöpferischer Energie bleibt. Jede Subjekt-Objekt-Spaltung teilt die Welt in Ressourcen und Profiteure. Diese Grenze zieht sich nicht zwischen Sachen und Menschen (oder Materie und Geschöpfen), sondern zwischen dem oder denen, die verbraucht werden, und denen, die von diesem Verbrauch profitieren.
Wir leiden also nicht nur an der Kommodifizierung der natürlichen und sozialen Welt. Wir leiden auch an einer Kommodifizierung der Begrifflichkeit selbst, in der sich nicht mehr in den Kategorien subjektiver Lebendigkeit über die Welt sprechen lässt. Wir leiden unter der Einhegung des Seelischen mit ihren Fiktionen von Trennung und Beherrschung, Außen (Ressource) und Innen (Akteur). Konzepte wie Ursache-Wirkungs-Relation, die Spaltung von Leib und Seele – allesamt Grundhaltungen der Aufklärung – führen zu einer Geiselnahme der Wirklichkeit durch das Konzept einer behandelbaren, reparierbaren, kontrollierbaren Welt. Jede Erfahrung, die dieser Einhegung widerspricht, muss von dieser unschädlich gemacht werden.
Dabei ist die Tragweite des Verbots einer Imagination unseres Selbst, die sich nicht an die Kausalmechanik hält, kaum klar. Denn alles Lebendige hat eine innere, nicht auf Kausalmechanik oder Kybernetik reduzierbare Dimension, die von uns nicht mehr erfasst werden kann. Tatsächlich machen wir uns kein Bild davon, in welchem Maß unsere Sicht auf die Wirklichkeit durch seelische Einhegungen deformiert wird. Diese reichen vom Verschwinden sich selbst organisierender Natur aus unserem Alltag – ein Abschied in einer Radikalität, wie ihn sich die ausgesperrten Waldnutzer vor ein paar hundert Jahren nicht hätten vorstellen können – über die Konzeption des eigenen Selbst als Biomaschine oder die Deklassierung des Empfindens als »bloße Chemie« bis hin zur ubiquitären Bindungslosigkeit.
Viele der neuen Positionen, die den Bruch mit den Dualismen der Aufklärung durch ein »Post« in ihrem Namen bekräftigen – »Postenvironmentalismus« etwa oder »Posthumanismus« – machen keinen Frieden mit der schöpferischen Wirklichkeit. Sie denken die menschliche Hybrid-Natur zwischen »Objekt« und »Subjekt« nicht über ihre Verwurzelung in den Prozessen kreativer Wildnis, sondern über die vom Menschen hergestellten Artefakte. Der Posthumanismus ist auf Maschinen fixiert, auf Cyborgs und Hybriden, und gibt sich mit Grashüpfern und Geckos ebenso wenig ab wie mit den das Natürliche und das Soziale integrierenden Denksystemen indigener Gemeinschaften. Er errichtet noch immer Mauern um eine Kolonie der Abstraktion, und bewacht so eine Enklave der Rationalität. Dadurch übersehen viele von ihm faszinierte Denker weiter die rationale Einhegung des lebenden Körpers in seiner schöpferischen, materiell-existentiellen Identität. Diese aber, schon im simplen Stoffwechsel immer auf den Anderen und das andere angewiesen, ist überhaupt erst das Vehikel, durch das ein Austausch mit dem Anderen möglich wird.
Jede emanzipatorische Philosophie steht auf schwankendem Boden, wenn sie sich über diese untergründige Einhegung der wilden Dimensionen unseres Selbst, unseres Denkens und unserer Identität nicht klar wird. Aber die Pointe der existentiellen Einhegung besteht gerade darin, dass sie weit vor dem Recht, Land und Güter zu nutzen liegt und eben auch noch weit vor den Begriffen in jenen unbewussten Bereichen, die als Metaphysik dem Redeverbot unterliegen. Vor dem Redeverbot liegt das Introjekt einer alternativlosen Amnesie. Und diese kann daher gar nicht mehr versprachlicht werden. Sie ist dem Bewussten und damit der Sprache nicht zugänglich (gleichwohl aber emotional unterschwellig aktiv). Das Gebot, lebende Subjekte von einer Teilhabe an der Allmende der Wirklichkeit und ihrer Mischung aus Praktiken und Gefühlen, Objekten und Sinnmomenten abzuschneiden, geht so weit, dass es uns vergessen macht, was fehlt, wie die Psychologen Miguel Benasayag und Gérard Schmitt (2007: 101f) beobachten.
Allmenden der Existenz
Eine Konzeption des Anthropozäns kann nur fruchtbar sein, wenn wir es nicht allein als »Epoche des Menschen« begreifen, sondern als Epoche, in der die lebendige Wirklichkeit der Ökosysteme zum Wirklichkeitsverständnis wird. Dazu müssen wir die Wirklichkeit selbst als ein Commons erkennen, das dazu drängt, sich in einer Naturgeschichte der Freiheit auch in den Körpern und in den subjektiven Erfahrungen lebendiger Subjekte zu entfalten. Commons sind so gesehen nicht allein etwas von Menschen Gestaltetes. Sie entfalten sich in der existentiellen Notwendigkeit lebendigen Austauschs, in dem der Mensch immer schon steht. Alle Realität, sagt Martin Buber (1995), ist Begegnung. Alle Realität, jeder Akt der Wahrnehmung, der Welt erschließt und produziert, ist eine Verhandlung, eine kreative Transformation zwischen zwei Polen, die beide sowohl Gegenstand als auch Akteur sind.
Die Wirklichkeit ist Commons, auch ohne uns. Wir können uns ihr nähern, indem wir unser Verhältnis zu ihr nach dem Muster des gegenseitigen Tausches gestalten. Kultur kann die spezifisch menschliche Weise sein, an der Welt als einer Allmende teilzunehmen und sie somit wirklicher zu machen. Philosophie und Praxis der Commons verstehen die Ko-Existenz der Organismen und Ökosysteme auf diesem Planeten als einen gemeinsamen Prozess, der die Lebendigkeit der Bio- und Semiosphäre erhöht. Das Denken in den Kategorien der Commons enthält eine im abendländischen Denken nicht grundsätzlich neue, aber lange Zeit unterschätzte und unterdrückte Ontologie. Erst diese ermöglicht ein Erfassen, aber auch ein Mitgestalten der Existenzbedingungen, in denen wir uns als Teilnehmende der Naturgeschichte und ihres sozialen, metabolischen und existentiellen Kosmos befinden (Weber 2012).
Prinzipien des Handelns entstehen von einem solchen Standpunkt aus im konkreten, situativen Aus-Handeln und wirken dadurch auf neue Situationen zurück. Jede Einstellung, jede Bedeutung, die in diesem Aushandeln entsteht, wirkt genuin schöpferisch verändernd. Alle Werte, die dieses Aushandeln bestimmen, sind diesem immanent und können nicht von außen kommen. Sie fallen nicht vom Himmel, und auch kein Gott, Staat oder wie auch immer gearteter objektivierender Prozess kann sie setzen. Jede Dekretierung absolut geltender Ziele und Normen wirkt mehr oder weniger zerstörerisch. Zugleich aber ist die Allmende der Wirklichkeit alles andere als regellos. Sie folgt den Bedingungen schöpferischer Identitäten, die verletzliche Körper haben, die Interessen folgen und die stets auf die anderen angewiesen sind. Es gibt Prinzipien existentiellen Gelingens, die gleichwohl nie festgeschrieben werden können, sondern gelebt werden müssen. Commoning ist das Prinzip einer Ökologie der Wirklichkeit und beruht somit auf konkreten Interaktionen. Diese müssen stets das Gedeihen des Individuums mit dem Gelingen des Ganzen ausbalancieren. In dieser Hinsicht ist existentielles Gelingen immer das Ergebnis eines Aushandelns zwischen Autonomie und Verschmelzung. Seine konkrete Erscheinung jedoch kann nicht kodifiziert, sondern muss gelebt werden.2
In diesem Sinne sind alle Commons »posthumanistisch«. Unsere Handlungsfreiheit, die unzweifelhaft besteht, ist einem System lebendiger Kräfte eingeschrieben. Beide Seiten sind sowohl souverän als auch abhängig. Der Mensch erscheint im Commons entsprechend nicht als Herrscher, sondern als Subjekt in einem Netz von Beziehungen, in dem (Inter-)Aktionen auf die Agierenden zurückwirken und in dem alle anderen Knotenpunkte ebenfalls aktiv sind – menschliche Subjekte, Fledermäuse, Pilze, Bakterien, ästhetische Leidenschaften, Ansteckungen oder Leitmetaphern. Darum ist die Idee der Commons, die den körperlichen, pragmatischen, materiellen und nährenden Aspekt realer Subjekte auf der Suche nach Sinn beinhaltet, die adäquate Formulierung einer »posthumanen« Verbindung mit dem Rest der Biosphäre. Denn ein Commons ist immer ein verkörpertes, materielles, sinnliches, existentielles und symbolisches Aushandeln der individuellen Existenz durch den Anderen und das Ganze. Es ist der Versuch, ein ordnendes Element der Wildnis zu sein, Akt einer schöpferischen Verwandlung. Jeder dieser Akte ist materielle Transaktion und Selbsterfahrung. Er ist real und metabolisch, indem in ihm die Teilnehmer des Ökosystems im Austausch von Fressen und Gefressenwerden verbunden sind, und er ist imaginativ, indem er Freude oder Angst wirken lässt – Erfahrungen, welche die Grundlage für reale Handlungen und materielle Veränderungen werden.
Natürliche – existentiell-symbolische wie materielle – Prozesse bilden die Richtschnur, um den Umgang mit dem verkörperten Aspekt unserer Existenz in eine »Kultur unserer Lebendigkeit« zu verwandeln. Der Begriff der Commons liefert das verbindende Element zwischen dem »Natürlichen« – der von selbst werdenden Welt der Wesen und Arten – und dem »Sozialen« oder »Kulturellen« – der Sphäre der vom Menschen mittels symbolischer Systeme, Diskurse und Praktiken gemachten Dinge. Die Natur in ihrem Allmende-Charakter zu erfassen ist ein Weg, uns selbst neu zu verstehen, und zwar gleichzeitig in unserer biologischen wie in unserer sozialen Lebendigkeit.
Eine Ontologie, also eine Wirklichkeitsbeschreibung unter der Maßgabe der Commons bietet die Möglichkeit, den sowohl konzeptuellen als auch erfahrungsbezogenen Begriff der Lebendigkeit in den Mittelpunkt zu stellen und somit die Wirklichkeit eines kreativen Kosmos nicht länger auszublenden. Darin schlummert die Möglichkeit zu einem relationalen Weltverständnis, das nicht nur Strukturen, Algorithmen und Kausalitäten, sondern auch die Handlungen und Empfindungen der Akteure umgreift, und das damit kein Dualismus mehr ist. Unsere Identität wurzelt in unkontrollierbarer Wildnis, schöpferischer Selbstorganisation, die keiner Kontrolle und keiner »Stewardship« unterliegen kann. Sie kann es nicht, weil das Unkontrollierbare den Baustoff bildet, aus dem die Instrumente bestehen, mit denen wir zwar versuchen, Kontrolle herzustellen, den wir aber selbst nicht kontrollieren können. In einer Wirklichkeit als Commons verzichten wir darauf, die Widersprüche des Existierens durch Reduktion auf eine Seite – nur Geist, nur Materie, nur Diskurs, nur Markt – aufzulösen. Wir verzichten auf jene höhere Synthese, die seit Hegels Logik zur verheerenden Antwort auf die Paradoxien der Existenz wurde. Deren Verheißung führte über Hegels Schüler Marx zum Heißlaufen der Utopien in einer brachialen Vorwegnahme des versprochenen widerspruchsfreien höheren Seins. Aber das wirkliche Sein ist höher und niedriger im selben Moment.
Das Lebendige sperrt sich jeder Synthese. Es ist – innere Identität an einem materiellen Körper – selbst größte Paradoxie. Diese lässt sich nur leben, in einer »Dialogik«, wie der französische Philosoph Edgar Morin sagt, in einer Logik des Dialoges und der Mehrstimmigkeit, der Begegnungen, der Gespräche, der gegenseitigen Transformationen und Interpretationen, in der Logik des Aushandelns und Kompromisse-Machens (Morin 2001: 272). Es ist diese Haltung des Verhandelns und Aushaltens, die seit der Vorzeit den menschlichen Umgang mit Commons bestimmt. Es ist das, was man »Commoning« nennt.
Poetischer Materialismus
Dem Anthropozän, wie es bislang von einer Vielzahl von Vertreterinnen und Vertretern konzipiert wird, fehlt das Begreifen, dass jeder Austausch – der von Sachen (in der Wirtschaft), der von Bedeutungen (in der Kommunikation) und der von Identitäten (in der Bindung zwischen Subjekten) – immer zwei Seiten hat: eine äußere, materielle, aber auch eine innerliche, existentielle, in der sich Bedeutung ausdrückt und erlebt wird. In diesem Austausch entsteht genuin Neues. Die Wirklichkeit ist schöpferisch und ausdruckshaft, weil sie sich niemals auf eine dieser Seiten reduzieren lässt. Weil alle Prozesse auf Beziehungen beruhen, die Bedeutungen vermitteln (welche Subjekte, also alle Lebewesen, als Emotionen erfahren), können wir das Bild einer solchen Wirklichkeit nur als Poetik formulieren. Nicht nur sprachliche Bedeutungsentfaltung ist real wirklichkeitsstiftend, sondern Wirklichkeit als solche ist nur als Prozess von gegenseitiger Hervorbringung oder »Interpenetration« (Frye 1991) zu verstehen – und darum nur in einer Poetik zu fassen.
Die poetische Dimension ist die Welt unserer Gefühle, unserer sozialen Bindungen, unserer Imagination und all dessen, was wir als bedeutungsvoll erfahren. Sie erschafft die Brücke zwischen dem Materiellen und einem symbolischen Gehalt, und ist damit unablösbar an biologische Kommunikation, soziale Verständigung, Austausch und Interaktion mit anderen gebunden.
Eine Poetik beschreibt nicht nur wie wir etwas erfahren (sortieren, strukturieren), sondern beharrt darauf, dass jeder dieser Akte genuin und unvermeidbar weltstiftend ist, und dass er in seinem Schöpfungsakt zugleich immer eine Verbindung zwischen Selbst und Anderem stiftet, aus der beide verändert hervorgehen. Eine Poetik formuliert die Welt, die wir erfahren, immer in der ersten und in der dritten Person. Sie kann darum die Welt, in der wir zuhause sind, und die Welt, die wir durch politischen und ökonomischen Wandel schützen möchten, auf intime, erfahrbare, und eben nicht gleichmacherische oder reduktionistische Weise miteinander verbinden.
Es geht darum, in einer Zeit der Revision der großen Diskurse – empirische Rationalität, Wirklichkeit als Konstruktion des menschlichen Geistes, instrumentelle Vernunft der Ökonomie – eine neue Sprache zu aktivieren, mit der Wirklichkeit zugleich einen neuen Status erhält. Es geht nach 300 Jahren Aufklärung um die Ergänzung der techné durch das Konzept der poiesis. Techné heißt Erklärbarkeit, Analyse und erfolgreicher Nachbau. Poiesis aber bedeutet schöpferische Selbstverwirklichung. Sie ist ein Element, das die Wirklichkeit hervorbringt, das sich nicht abstellen lässt, das wir aber missverstehen können. Letztlich ist in einem Sinne alles techné – aber in einem anderen auch alles poiesis. Techné ist Ursache-Wirkung, Kontrolle, Steuerung, Verstehen, Tauschen. Poiesis ist innere Zielgerichtetheit, Finalität, Sich-Überlassen, Selbstausdruck, Fühlen, Schenken und Annehmen. Techné ist Planung und Nachhaltigkeit. Poiesis ist Schöpfung und Verschwendung. Leben braucht beides. Wirklichkeit ist beides. Die schöpferische Transformation erwächst aus diesem Widerspruch, ohne ihn je zu lösen.
Vielleicht könnte man eine solche Perspektive als »poetischen Materialismus« bezeichnen. Sie ist in jeder Hinsicht realistisch, aber sie ist realistisch gerade in ihrer Idee einer dauernden gegenseitigen Verwandlung hin zu etwas Neuem, was immer Trennung-in-Gemeinsamkeit darstellt. Die Beziehungen aber organisieren sich zwischen Körpern. In Systemen, in denen Veränderung durch die wechselseitige Verwandlung der Teilnehmenden geschieht, ist Erfahrung nicht als Identität, sondern nur als Ausdruck des einen durch das andere, also poetisch möglich. Das Poetische ist zugleich eine Modifikation des Einzelnen und eine Modifikation des Ganzen, das in diesem Einzelnen im Sinne einer symbolischen Erfahrung deutlich wird. In diesem Sinne erscheint in ihm die Wirklichkeit als Allmende. Ein konsequentes Denken und eine gelebte Praxis der Commons basieren auf einer Poetik der Relationen. Deren Idee des Austauschs versteht beides, die körperhaften Dinge und die existentielle Realität von Bedeutung und Empfindung als Aspekte eines kreativen Haushaltes der Ausdrucks- und Erfahrungsfähigkeit in einer Naturgeschichte der Freiheit.
Die Idee, unsere Wirklichkeit durch die Optik einer »Poetik der Relationen« zu verstehen, hat zuerst der französisch-karibische Dichter und Philosoph Edouard Glissant formuliert. Glissant nennt seine Poetik auch eine »Kreolisierung des Denkens«. Alle Mitspielenden sind hier gleichwertig, sie sind Akteure und Objekte, sie gehören sich selbst, und sie sind für alle anderen Mittel – ja sogar Nahrung (Glissant 1996). Eine Kreolisierung des Denkens fordert »peership« zwischen Empirie und Gefühl. Alle Prozesse finden zugleich drinnen und draußen statt, sind immer konzeptuell und seelisch, aber stets real in Raum und Zeit. Der Schritt über den Abgrund der zwei Kulturen führt über eine Neubewertung des Schöpferischen als Zentrum der Wirklichkeit. Das Schöpferische aber ist das Lebendige. Die Erfahrung des Lebendigen wiederum ist schöpferisches Handeln, erlebt von der Innenseite. Man könnte diese Perspektive als »affektive Objektivität« bezeichnen. Diese ist ein universelles und reales Phänomen – zugleich aber eines, das sich gegen jede Messung sperrt.
Wie sehr diese seelische Kraft Commoners zum Handeln ermutigt und dafür belohnt, zeigt die indische Geographin Neera Singh. Sie weist nach, dass Dorfbewohner bei der Commons-Arbeit in den Wäldern nicht nur Ressourcen produktiver machen, sondern zugleich emotionale Bedürfnisse stillen und ihre »individuelle und kollektive Subjektivität verändern« (Singh 2013). Sie engagieren sich in einer aktiven Poetik des Bezogenseins, in der das menschliche Fühlen und die materielle Welt sich gegenseitig hervorbringen.
Es ist entscheidend zu sehen, dass diese »kollektive Subjektivität« sich über die menschliche Gemeinschaft hinaus dehnt und jene der lebenden Umwelt einschließt – ihre Bäume, ihre zur Nahrung dienende Vegetation, ihre Vögel und deren Stimmen, ihre Wasserströme. All das ist mit der Subjektivität menschlicher Teilnehmer des Ökosystems verflochten, ganz so, wie der Spin eines Partikels in der Quantenphysik mit den Handlungen des beobachtenden Forschers in Wechselwirkung steht. Commoners, so könnte man sagen, folgen einer poetischen Raison, die einen emotiven Gehalt hat, aber an Materie verkörpert bleibt. Das poetische Moment ihres Handelns schlägt sich im sinnlich spürbaren und emotional erfüllenden Gedeihen des Waldes und des sozialen Zusammenhaltes nieder.
Es ist bezeichnend, dass Kulturen, für die eine Teilhabe an natürlichen Prozessen emotionales Engagement in einer poetischen Wirklichkeit bedeutet, die Unterscheidung zwischen »belebt« und »unbelebt« bzw. »Natur« und »Kultur«, die im Zentrum des abendländischen Selbstverständnisses stehen, nicht machen. Die Einhegung der affektiven Grunderfahrung, in einem lebendigen Austausch mit der Welt zu stehen, von ihr zu nehmen und zu ihr beizutragen, findet dort nicht statt. Die betreffenden Kulturen befinden sich in einem Kontinuum mit dem, was sich schöpferisch entfaltet, in einem Kontinuum der Subjekte und Objekte, welches eine kulturelle Interpretation der metabolischen Kontinuität zwischen dem individuellen Körper und den Körpern des größeren Ökosystems ist (Descola 2005).
Singh bezeichnet das seelische Engagement durch die Pflege einer Allmende als »emotionale Arbeit«. Ohne diese affektive Dimension verlieren beide, die Arbeitenden und der Adressat der Arbeit – das belebte Ganze –, ihre Identität. Der Geograph Ben Anderson nennt eine solche emotionale Verbindung in Anlehnung an Hardt und Negri eine »Biomacht von unten«. Zunehmend beginnen Geographen und Philosophen diese gelebte Realität als Faktor realer Interaktionen zu begreifen (Anderson 2012; Negri 1999; Hardt und Negri 2009).
Wird eine solche Allmende kolonialisiert, sind die emotionalen Bedürfnisse der Beteiligten – Zugehörigkeit, Sinn, Identität – nicht mehr erfüllbar. Im Zuge der Kolonialisierung – die gerade auch unsere vermeintlich modernen Köpfe erobert hat – werden solche Emotionen als rückständig, abergläubisch, unaufgeklärt oder unwissenschaftlich denunziert. Emotionale Arbeit aber ist ökologische, also auch materielle Realität. Der Zusammenbruch der Affekte hat materielle Konsequenzen, durch die auch das Verhältnis der Menschen zum Ökosystem leidet. Dieser ökologische Tod wiederum hat eine sowohl spirituelle wie auch taxonomische Realität. Das heißt: Beide sind voneinander abhängig und durcheinander ausbalancierbar.
Kultur ist schöpferische Interpretation der Natur und der sie hervorbringenden, nicht zu unterdrückenden Lebendigkeit. Daher sind Subjektivität, Kooperation, Aushandeln und unvereinbare Fremdheit nicht nur die Muster, die wir über die Welt legen, um sie kulturell zu formen. Es sind zugleich Muster der schöpferischen Lebendigkeit, die Natur bereits ausmachen. Sie machen Wahrnehmung zu einer ko-kreativen Allmende aus existentiell um sich besorgtem Subjekt und Umgebung, durch die beide sich wechselseitig hervorbringen.
Darum ist Kultur – das Vermittelnde, der kreative Austausch – unsere Natur. Und darum kann diese Kultur nicht Kontrolle und Engineering der Natur sein. Sie muss vielmehr zu einer Kultur unserer Lebendigkeit werden, die in schöpferischer Freiheit das für eine fortgesetzte Lebendigkeit Notwendige immer wieder neu erzeugt. Daher auch kann menschliche Kultur nicht Natur als ein passives, unlebendiges Objekt kontrollieren, sondern sie muss unsere Lebendigkeit ins Zentrum stellen. Schließlich sind wir Menschen in der kreativen Lebendigkeit von Natur bereits mit gemeint. Eine Politik der Nachhaltigkeit als Praxis der Lebendigkeit wäre der beste Weg, um für unsere Freiheit und unser langfristiges Überleben zu sorgen. Wir können das erreichen, indem wir unsere paradoxale »Autonomie-in-Bezogenheit« im Hinblick auf ein umfassendes Ganzes so ausgestalten, dass beide Seiten durcheinander möglichst viel Wirklichkeit erlangen.
Vor diesem Hintergrund wird es möglich, der vermeintlich wissenschaftlichen Perspektive »objektiver Realität«, also einer Perspektive in der dritten Person, eine Ökologie bzw. Perspektive in der ersten Person hinzuzufügen. Sie schafft die Verbindung zwischen unserer Wahrnehmung und unserer materiellen Realität, die nur von einem Bedeutungen erfahrenden Selbst möglich ist (Weber und Varela 2003). Darin besitzt echte Objektivität stets einen poetischen Aspekt. Einsichten, die durch eine Weltsicht, die nur die empirisch-objektive Position gelten ließ, ausgeschlossen waren – weil sie im materiellen, physischen Sinn nicht »wirklich« waren – sind in einem innerlichen Sinn gültig. Sobald natürliche Ökosysteme in ihrer schöpferischen Lebendigkeit begriffen werden, wird es nötig, rationales Denken und empirische Beobachtung um die »empirische Subjektivität« der Lebewesen und die »poetische Objektivität« sinnvoller Erfahrungen zu ergänzen. Dadurch bekommen wir die Welt in den Blick, in der wir auf intime Weise zuhause sind, die zugleich die Welt ist, für die wir politische Vorkehrungen ersinnen. Sie repräsentiert die fehlende subjektive Perspektive innerhalb der menschlichen Kultur, welche diese erste vollständig machen würde.
Commoning als reales Miterschaffen von Wirklichkeit
Unsere Herausforderung ist ebenso praktisch wie theoretisch: Die Aufgabe besteht darin, diese neue ontologische Sensibilität in die Welt zu tragen und in ihr zu verankern. Glücklicherweise bieten die bestehenden Praktiken, mit denen Menschen Commons aufrechterhalten oder neu hervorbringen eine Vielzahl nützlicher Bezugspunkte. Sie zeigen, wie sich das Subjektive und Objektive, das Natürliche und Humane verzahnen lassen und wie man die vielen weiteren Dualismen überwinden kann, welche unsere schöpferische Lebendigkeit behindern. Der Prozess des Commoning widerspricht den Dualismen, auf denen die Ökonomie im konventionellen Verständnis basiert. Das gelingt ihm, indem er andere Rollen und Handlungsfelder inszeniert als jene, die von der neoliberalen Wirtschaftslehre festgelegt wurden (wie etwa »Produzent« und »Konsument« oder »Investor« und »Naturressource«). Eine Praxis des Commoning ersinnt Versorgungsstrukturen, denen es darum geht, fundamentale Bedürfnisse in jeweils spezifischen Kontexten zu stillen, zu denen immer eine Dimension existentieller Erfahrung und persönlicher Integration gehört.
Sinn und Zweck von Commons-Projekten und den entsprechenden politischen Zielen besteht darin, wirtschaftliche Aktivität zu verlebendigen und dabei das »Enlivenment«, also eine Gleichzeitigkeit von Austausch- und Sinnerfahrungsprozessen, ins Zentrum zu rücken. Das heißt, dass eine solche Politik danach streben muss, die geteilten Interessen aller zu vermitteln, seelische menschliche Bedürfnisse zu berücksichtigen und darin die Fruchtbarkeit des Ökosystems zu erhöhen. Wie solch ein komplexes und notwendigerweise in sich widersprüchliches Ziel erreicht werden kann, ist in Anne Salmonds Essay in diesem Band zu sehen. Dieser beschreibt, wie die Kultur des Maori-Volkes in Neuseeland die tiefgreifende Verwandtschaft zwischen Menschen und anderen Lebensformen ausdrückt, die in einer Reihe von offenen und dynamischen Geflechten und Austauschbeziehungen miteinander verbunden sind.
Ein ähnliches Verständnis wird in der Idee des Buen Vivir ausgedrückt, der Vorstellung des Guten Lebens, unter der die Menschen etwa in Ecuador und Bolivien das achtsame Zusammenleben sowohl mit Pachamama, der »Mutter Erde«, als auch mit der humanen Gemeinschaft und ihren Vorfahren verstehen. Eine solche Herangehensweise hinterfragt die Kosmologie der Moderne mit ihrer Aufteilung in Dinge, Akteure, Markt und Staat. Beide Beispiele, das traditionelle und das gegenwärtige, gehören zu jener schier endlosen Kette von Möglichkeiten, wie der Mensch zum jeweils sozialen oder natürlichen Anderen in Beziehung zu stehen vermag, die die künstliche Grenze zwischen »belebt« und »unbelebt« außer Kraft setzen und die somit Identitätssysteme »jenseits von Natur und Kultur«, wie es der französische Anthropologe Philippe Descola (2005) ausdrückt, darstellen.
Derartige multidimensionale, »Innen« und »Außen« sowie Bedeutung und Stofftausch vermischende Bezugssysteme sind freilich nicht auf Völker mit prämodernen kulturellen Wurzeln begrenzt. Auch Menschen, die in der Welt der Moderne und ihrer Logik von globalisierter Industrie und Markt aufgewachsen sind, bauen Commons auf, welche eine Ontologie schöpferischer Lebendigkeit verkörpern. Das Permakultur-Netzwerk etwa entwickelt Formen des Landbaus, die explizit im Einklang mit ökologischen Kräften sein sollen. Ein Leitsatz der Permakultur lautet »Integrieren statt trennen«, sodass landwirtschaftliche Praktiken Beziehungen zwischen den Dingen aufbauen, die zusammen wachsen und sich gegenseitig unterstützen. Mit ganz anderen, viel spielerischeren Zielen unterstützt die amerikanische Burning-Man-Community die Prinzipien »radikaler Inklusion« und »gemeinsamer Anstrengung« in Verbindung mit »radikalem Selbstvertrauen«, »Partizipation« und »Direktheit«. Es geht ihr darum, die Wildheit in jedem menschlichen Individuum zu fördern und zugleich eine zivile Gesellschaftsordnung herzustellen sowie eine produktive Verbindung zum Land zu pflegen.
Die Idee, mit den Kräften der Natur und den sozialen Dynamiken zu arbeiten anstatt zu versuchen, sie zu verleugnen, bürokratisch einzuebnen oder mit Macht zu unterdrücken, ist ein Schlüsselprinzip von commons-basierter Governance. Es ist einer der Gründe, warum ein Sozialkritiker wie Ivan Illich die Commons als einen Weg spiritueller Rückverbindung propagierte, den wir angesichts einer entmenschlichenden Moderne einschlagen können. Commons helfen uns, diese Richtung zu halten. Sie betonen »emotionale Arbeit« als eine entscheidende Dimension, um Menschen miteinander zu verbinden und sie in eine Beziehung zu natürlichen Systemen und zu früheren und künftigen Generationen zu setzen. In ihrem Rahmen lassen sich Identität, Bedeutung, Ritual und Kultur entwickeln, indem die Menschen »Ressourcen« für ihre alltäglichen Bedürfnisse einsetzen. In diesem Prozess werden freilich solche »Ressourcen« in Objekte transformiert, die mit persönlicher Bedeutung und Notwendigkeit für die Gemeinschaft aufgeladen sind, womit sie ihren reinen Objektstatus verlieren.
Die kunstvolle Integration der sozialen, moralischen und physikalischen Dimensionen in eine einzige Allmende, deren physikalische Existenz sich weder von den Körpern noch von den erlebten Sinnmomenten ihrer Mitglieder abtrennen lässt, gibt dem Commons-Paradigma Dauer und Kraft. Es bedient sich der Quelle schöpferischer Lebendigkeit in den daran beteiligten Menschen und ist umgekehrt in der Lage, tiefe Zufriedenheit, Identität, Engagement, Flexibilität und Vitalität zu stiften. Das Paradigma der Commons fordert unser politisches System heraus, welches um das Duopol Markt/Staat kreist, das wiederum selbst auf den die polaren Gegensätze favorisierenden Prinzipien der Aufklärung beruht. Aber es geht darum, eben diese duale Ausschließlichkeit zu unterlaufen und Formen von Gesetzen und politischer Willensbildung hervorzubringen, mit denen sich Commons zunächst einmal überhaupt konzeptuell abbilden, in die politische Willensbildung einführen und schließlich fördern lassen.
Die Kosmologie der liberalistischen und der Moderne verpflichteten Politikvorstellungen hat Probleme damit, die spezifische Effizienz von Governance-Modellen zu verstehen, die subjektive Gefühle, menschliche Bedürfnisse, lokales Wissen und einzigartige historische Settings nicht nur als sentimentale Epiphänomene einer »eigentlich« rein materiellen wirtschaftlichen Rationalität verstehen, sondern vielmehr gerade die Mischung mit idiosynkratischen Dimensionen suchen. Der bürokratische Staat zieht es vor, das Zusammenleben mit Hilfe universalisierender Abstraktionen zu regeln und seine Bürgerinnen und Bürger als atomistische Individuen bar jeder Geschichte und allen Kontextes zu verstehen.
Gerade hierin liegt vermutlich einer der tieferen Gründe, warum Nationalstaaten und öffentliche Verwaltung die Loyalität der Bürger verlieren. Die distanzierte, unpersönliche Art, Wirtschaft und Soziales zu verwalten, ist immun gegenüber jener schöpferischen Lebendigkeit, die wir als menschliche Wesen benötigen und unausweichlich suchen. Hier liegt auch einer der Gründe, warum sich der Nationalstaat nur sehr begrenzt zum Anwalt der Natur machen kann, weil er diese, statt sie in ihrer Verwobenheit mit humanen Belangen als Commons zu verstehen, unweigerlich zum Gegenstand verwaltungsbürokratischer Akte macht oder sie – aktueller – als eine »grüne« ökonomische Ressource dem Markt einspeist.
Die Idee des Markt/Staat-Duopols, durch das für die Bedürfnisse des Kunden/Bürgers gesorgt wird, verläuft parallel zum Postulat, dass sich das individuelle Selbst als souveräner Akteur und Herr seiner Empfindungen und Taten selbst hervorbringen muss, indem er geschickt und effizient alle verfügbaren Ressourcen benutzt, um im Wettbewerb als Sieger hervorzugehen. Wie sehr dieses atomistische Effizienz-Modell an der ökologischen (und damit auch ökonomischen) Realität vorbeigeht, habe ich hier beschrieben. Wird das Entstehen persönlicher Identität von einem derart ressourcenzentrierten und -objektivierenden Standpunkt aus betrachtet, legitimiert dies eine Perspektive, die andere (mit dem eigenen Selbst verbundene) Subjekte ebenfalls als Ressourcen sieht; als Material, aus dem sich das eigene Selbst aufbauen lässt. Beziehungen, die in Wahrheit eher Prozesse eines transformierenden Wandels sind und somit immer unsicher und offen, unterliegen dann einem Wettbewerb um die geschickteste Nutzung und Funktionalisierung des Anderen.
Der beständige Druck, sich selbst zu verzwecken, führt dazu, dass viele Commoners, die in offenen Netzwerken zusammengeschlossen sind wie Open-Source-Software, Open-Design-Produktion, Open-Source-Landwirtschaft vorsätzlich an Märkten vorbei arbeiten, welche finanziellen Gewinn über alles andere stellen. Unternehmen versuchen immer wieder, die Fülle auszubeuten, die durch commons-basierte Peer-Produktion – und damit notwendig innerhalb der Dimension schöpferischer Lebendigkeit – geschaffen wird. Unternehmen sind jedoch strukturell so gestaltet, dass sie Commons einhegen und monetarisieren müssen, um wirtschaftlich erfolgreich zu sein. Ihre Struktur entstammt einem Weltbild, das auf die Subjekt-Objekt-Trennung setzt. Diese wird in Form von Beziehungen ausgebeutet, die auf der »neutralen« Geldwährung beruhen. Unternehmen können daher »emotionale Arbeit« nicht abbilden, sondern entwerten sie. Durch seine substantielle Allianz mit dem Markt verstärkt der Staat diese Verleugnung einer ontologischen Realität lebender Systeme – den existentiellen Katastrophen zum Trotz, die derzeit den Planeten bedrängen, allen voran der Klimawandel.
Die Wächter des Staates und des freien Marktes täten gut daran, die strukturellen Begrenzungen des von ihnen vertretenen Konzeptes anzuerkennen und Commons als eine heilsame Form von Governance zu sehen. Aber als ein Produkt der modernen Kosmologie ist der Markt/Staat strukturell unfähig, in Form eines respektvollen Miteinanders zwischen gleichwertigen Mitspielern an der Biosphäre teilzunehmen. Der dualistisch konzipierte »Markt/Staat« ist in seiner Selbstreflexion nicht in der Lage, schöpferische Lebendigkeit als ontologische Wirklichkeit anzuerkennen und für die Zukunft einzusetzen.
Es ist bezeichnend, dass viele Verfechter des Anthropozäns als einer Epoche der Weltgärtnerschaft und der technologischen Stewardship über die Biosphäre, auch einen ultraliberalistischen Markt-Ansatz durchsetzen wollen (Shellenberger und Nordhaus 2013; Marris 2013), um die Austauschprozesse mit der Biosphäre zu organisieren und Verteilung, Zuteilung und Sinnzuschreibung zu meistern. Die Kreativität des Marktes wird als eine Kraft für solche Innovationen begrüßt, welche dann die technohybride Vermischung von Mensch und Natur vorantreiben helfen. Bereits diese Strategie entlarvt viele Interpretationen des Anthropozäns und so manchen vorgeblichen Postdualismus als versteckte Neuinszenierung von Themen der Aufklärung. Aus diesem Blickwinkel ist auch die Tendenz von Nachhaltigkeitsforschern fragwürdig, »Grüne Ökonomie«, also eine Monetarisierung von Natur und ihrer Ökosystemdienstleistungen, und eine »Grüne Buchhaltung« einzufordern. »Umweltdienstleistungen« mit einzukalkulieren mag eine schnelle Korrektur unseres traditionellen Marktdenkens und seiner Behandlung der Biosphäre als Black Box zur Ressourcenentnahme und -verklappung versprechen, aber der Vorschlag geht an der hier entfalteten Beobachtung vorbei, dass jeder Austauschprozess immer und unausweichlich auf vielen miteinander verwobenen und voneinander abhängigen Ebenen, von der physiologischen Dimension bis zur spirituellen, stattfindet. Es ist ausgeschlossen, einen der beteiligten Faktoren auf einen anderen »zu reduzieren«, und somit unausweichlich, dass beide Seiten, die Auffassung unseres Wirtschaftens und die Auffassung, was Natur ist, sich gegenseitig verändern müssen.
Gut ist, was wirklicher macht
Die Moderne arbeitete an der Emanzipation des Menschen von der Natur durch deren Beherrschung. Die Denker des Anthropozäns und des Posthumanismus wollen mit dieser Haltung Schluss machen – halten aber stillschweigend die Differenz des Humanen zur übrigen Wirklichkeit aufrecht. Der hier skizzierte poetische Materialismus des Enlivenment hingegen, der sich in gelingenden Prozessen des Commoning ausdrückt, denkt sich das Verhältnis zwischen Mensch und Natur wie das eines Austausches von gegenseitigen Verpflichtungen, materiell und kulturell. Er sucht die Voraussetzungen für ein gemeinsames Teilen von sowohl stofflichen als auch symbolischen schöpferischen Prinzipien. Er akzeptiert, dass Lebendigkeit die Prinzipien der Natur ebenso bestimmt wie die all ihrer Spezies, von denen eine Homo sapiens ist. Diese Prinzipien beruhen auf Ko-Kreativität, Verkörperung, Geburt-durch-Tod, Transformation, Beziehung, Prozess, Verbindung-als-Trennung, Licht und Schatten zugleich. Die Wirklichkeit ist so gesehen ein Commons aus Wahrnehmenden und Wahrgenommenen. Dessen Objektivität ist kein akademischer Diskurs. Sie ist nicht erfunden und nicht konstruiert. Sie ist beides, eine Beschreibungsweise der Welt und eine Praxis der Erfahrung. Sie ist, wie Aristoteles’ ethisches Ideal einer Vermittlung der »Weisen und der Vielen«, niemals eindeutig, immer Prozess, immer Geburt (Nussbaum 2001). Das Ziel besteht darin, wirklicher zu werden, eine wachsende Dimension der Wirklichkeit zu schaffen.
Nach dem Sonnenuntergang bei Sant’Andrea vor Elba ist das Gewitter, grau und violett, in Richtung Korsika weitergezogen. Das Meer spiegelt die Farben der Atmosphäre und schüttelt sie zugleich von sich, während seine bewegte Rüstung jede Tönung annimmt: Türkis, Celeste, Grau, Orange, Violett, Ultramarin. Das Meer hat keine Farben, es hat nichts als Kraft. Das Meer ist die »weindunkle See«, die Homer besang, die Kraft, welche Konkretion erst ermöglicht. Die Kraft, die wirklicher macht und die sich jedem verleiht, der sie weiterträgt und verwandelt.
Wir können das Anthropozän in dem Maße, wie es als »Menschenzeit« hingenommen wird, zu einer Epoche der Lebendigkeit transformieren. Wir brauchen dafür eine Haltung der Inklusivität, der gegenseitigen Akzeptanz zwischen Haltungen, Körpern, Identitäten und Empfindungen, eine Haltung, die sich der »notwendigen Unvollkommenheit jeder Schöpfung« (Buber) stellt, und weiß, dass nur aus ihr poiesis gelingen kann. Wir benötigen die Bereitschaft zur dauernden Verhandlung innerhalb der Allmende der Wirklichkeit. Wir brauchen das Bekenntnis der Zugehörigkeit-in-Verschiedenheit. Aber diese heißt nichts als in Beziehung zu stehen, etwas, für das wir von Anbeginn gemacht sind. Wir können darum unsere Verhaltensweisen der Transformation und Vermischung anpassen, können anerkennen, dass sich das fruchtbare Wilde nicht einhegen lässt, ohne dass der, der es kontrollieren will, mit der eigenen Freiheit zu bezahlen hat.
Der Autor dankt David Bollier für die Unterstützung bei der Formulierung des vorletzten Abschnittes.
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