Die Welt der Commons

Muster des gemeinsamen Handelns

Die Zeitbank von Helsinki

Währung als Commons

Jukka Peltokoski, Niklas Toivakainen, Tero Toivanen und Ruby van der Wekken

Im Oktober 2009 kündigte sich in Kopenhagen ein weiterer fruchtloser Klimagipfel an. Zur gleichen Zeit begann ein Freundeskreis aus Kumpula, einem Stadtteil Helsinkis, über konkrete Alternativen zu dieser Art der Weltveränderung nachzudenken. Es musste etwas geben, das man selber machen konnte! Nach dem ersten Treffen des Freundeskreises entstand der »Kumpula-Tauschkreis«. Die ersten siebzehn Teilnehmenden hatten beschlossen, untereinander Güter und Dienstleistungen wie Übersetzungen, Schwimmstunden oder Gartenarbeit zu tauschen.

Ein Jahr später interessierten sich immer mehr Menschen für den Tauschkreis, der inzwischen in »Zeitbank Helsinki« umbenannt worden war. Sie wollten sich an dieser sinnstiftenden, alternativen Form des Wirtschaftens beteiligen, die unter dem Namen »timebanking« bekannt geworden war. Das Grundprinzip einer Zeitbank folgt der Idee, dass Zeit, Arbeit und Bedürfnisse aller Beteiligten gleich viel wert sind. Eine Stunde Babysitten zählt also gleich viel wie eine Stunde Altenbetreuung oder eine Stunde Buchhaltung. Dieses Wesensmerkmal von Zeitbanken steht mit den Grundannahmen des gegenwärtigen Geldsystems und des kapitalistischen Marktes in offenbarem Kontrast: Dort werden Zeit und Leistungen verschiedener Menschen ungleich bewertet. Zeitbanken bieten dazu eine Alternative. Sie können die Bedürfnisse der Einzelnen oder die ihres unmittelbaren Lebensumfeldes auf sozialere Weise befriedigen.

Im Jahr 2014 waren etwa 3.000 Mitglieder bei der Zeitbank Helsinki registriert, mehr als ein Drittel davon hatten sich bereits an mindestens einem Tauschprozess beteiligt. Bis heute sind etwa 19.000 Stunden getauscht worden, die interne Arbeit für die Wartung und Weiterentwicklung der Zeitbank mit eingerechnet.

Doch die Zeitbank Helsinki steht nicht allein. Weltweit gibt es Tausende Zeitbanken, die es Einzelnen und Organisationen erleichtern, Dienstleistungen und manchmal auch Güter nach den Prinzipien des »timebanking« zu tauschen. Die Zeitbank Helsinki ist Teil des Community Exchange System1, eines Netzwerks jenseits von Markt und Geld, das Zeitbanken und Regionalwährungen eine gemeinsame Plattform bietet und so den Austausch zwischen den Projekten fördert.

Zeitbanken werden oft als irrelevant für die »Realwirtschaft« angesehen, weil sie nichts mit »ökonomischen Fragen« oder Märkten zu tun haben. Oder sie werden als Selbsthilfeinstrument zur Lösung sozialer Probleme beschrieben, als Wohltätigkeitsorganisation oder gar als neue Form des Ehrenamts. Aus unserer Sicht sind Zeitbanken Plattformen, mittels derer Menschen ihre Fähigkeiten entwickeln und Dienstleistungen austauschen können und dabei zugleich ihr Zusammengehörigkeitsgefühl stärken. Und weil sie reale Bedürfnisse befriedigen und dabei das entsteht, was Ökonomen »soziales Kapital« nennen, verdienen es Zeitbanken, mindestens so ernst genommen zu werden wie Märkte.

Wie aus einer Währung ein Commons wird

Von Anfang an war die Zeitbank Helsinki bemüht, auch als Diskussionsplattform zu funktionieren. Sie wird von einer Kerngruppe verwaltet, die allen Mitgliedern offen steht. Die Gruppe reflektiert und diskutiert die Entwicklung der Zeitbank und den Umgang mit neuen Herausforderungen. Alle größeren und wichtigen Entscheidungen werden entweder nach Konsultation aller Mitglieder oder durch Abstimmungen getroffen. So stimmten die Mitglieder 2010 über die Umwandlung des lokalen Tauschrings in die Zeitbank Helsinki ab und auch darüber, dass die lokale Währung »Tovi« (Finnisch für »Moment«) getauft werden sollte.

Als eine große Kosmetikfirma mit einem eigenen Tauschkreis Mitglied bei der Zeitbank Helsinki werden wollte, löste das eine hitzige Diskussion darüber aus, welche Dienstleistungen und Beziehungen unterstützenswert wären und wie die Grenzen der Zeitbank zu definieren sind. Inspiriert vom Beispiel der Solidarökonomie-Bewegung entwarfen einige Mitglieder im Mai 2013 das »ABC der Zeitbank Helsinki«, ein Grundsatzpapier, in dem die Werte und Arbeitsprinzipien der Zeitbank formuliert sind. Das ABC definiert die Zeitbank als Plattform für soziale Praktiken, die Prinzipien folgen wie: »Gegenseitigkeit, Wir-Gefühl, ökologische Nachhaltigkeit, ökonomische Gerechtigkeit, lokale und partizipative Kultur«. Nach diesen Prinzipien richtet sich auch die Entscheidung, welche Organisation aufgenommen wird.

Als eine lokale Lebensmittelkooperative der Zeitbank beitreten wollte, war das die perfekte Kombination und eine wunderbare Möglichkeit, sich mit einer Gemeinschaftswährung in den lokalen Markt einzumischen. Die Kooperative stellt den Mitgliedern lokal produzierte Nahrungsmittel über Zeitgutschriften zur Verfügung, und im Gegenzug bekommt sie Zugang zur Zeitbank-Gemeinschaft und damit zu all jenen Ressourcen, die für Zeitguthaben eingetauscht werden können.

Ein weiteres Commoning-Beispiel ist das Netzwerk »Zeit heilt«. Es entstand aus der Zeitbank heraus als Peer-to-Peer-Netzwerk.2 Menschen in schwierigen Lebenssituationen können über das Netzwerk emotionale Unterstützung erhalten. Die Einsätze werden den Anbietern als Zeitguthaben gutgeschrieben, wobei es egal ist, ob sie ihre Fähigkeiten durch formale Bildung, ihre berufliche Tätigkeit oder ihre Lebenserfahrung erworben haben. Das System setzt auf Reziprozität – mal hilft man anderen, mal erfährt man selbst Hilfe. Das Netzwerk bedient sich zudem der Zeitbank, um ganz konkrete Dinge abzudecken, etwa Unterstützung im Haushalt oder bei der Kinderbetreuung.

Die Zeitwährung selbst, der Tovi, ist keine Ware, sondern eine Art Wertmarke in einer commons-basierten Kreditvergabe, die genutzt werden kann, um konkrete Tätigkeiten oder Produkte auszutauschen. Der Prozess, in dem die Prinzipien und Regeln der Tauschwährung festgelegt werden, ist selbst eine Form des Commoning. Die Guthaben der Zeitbank Helsinki dienen gewissermaßen als pädagogisches Mittel, das die Beteiligten dabei unterstützt, Erfahrungen mit Kooperation und Selbstorganisation zu sammeln. Menschen, die einander fremd sind, können sich so begegnen und aufeinander beziehen. Über die Zeitbank können wertvolle Fähigkeiten aller – auch jener außerhalb des Arbeitsmarktes wie Ältere oder Menschen mit Behinderung – sichtbar gemacht und genutzt werden. Zeitbanken helfen dabei, unser tägliches Leben ohne Vermittlung über den Markt zu reproduzieren. Sie sind eine Plattform für Commoning.3

Ein weiteres wichtiges Commoning-Beispiel in der Zeitbank war die Entwicklung eines internen Besteuerungsmechanismus. Bekommt ein Anbieter einer Dienstleistung eine Zeitgutschrift, wird automatisch ein bestimmter Prozentsatz davon dem Zeitbank-Konto eines ethischen Wirtschaftsakteurs seiner Wahl gutgeschrieben; das kann eine Foodcoop sein, eine lokale Solidarische Landwirtschaft oder das Netzwerk »Zeit heilt«. Diese Zeitsteuer-Funktion erlaubt es den Mitgliedern, jene Akteure und Organisationen zu stärken, die die im ABC aufgelisteten Werte beispielhaft umsetzen. Sie unterstützt Tätigkeiten, die von den Mitgliedern besonders geschätzt werden, und stärkt die Weiterentwicklung der Gemeinschaft. Auf abstrakterer Ebene können Zeitsteuer und Zeitgutschriften als Mittel verstanden werden, Commons und Solidarische Ökonomie in Finnland zu unterstützen.

Dem Staat begegnen

Ende 2013 verabschiedete die Finnische Steuerbehörde neue Richtlinien, nach denen professionelle Dienstleistungen, die über Zeitbanken erbracht werden, entsprechend ihrem Marktwert (in Euro) versteuert werden müssen. Die Zeitbank Helsinki focht diese Entscheidung mit dem Argument an, sie verletze das elementare Prinzip der Gleichheit beziehungsweise Gleichwertigkeit aller Leistungen und stelle damit das Herzstück der Zeitbank in Frage. Sie forderte eine Ausnahme von der Besteuerung in Euro, um das tatsächliche Potenzial der finnischen Zeitbanken – einschließlich der Wirkungen der (internen) Zeitsteuer – beurteilen zu können. 2014 begann darüber ein Dialog zwischen der Zeitbank und der Stadt Helsinki, die geldlosen Tauschaktivitäten ließen zunächst nach.4

Die Auseinandersetzung dreht sich seither darum, die Autonomie der Zeitbank als sich ständig weiterentwickelndes, diskursiv gestaltetes Commons genauso zu bewahren, wie die formalrechtliche Akzeptanz sowie das öffentliche Ansehen. Wir versuchen, die Stadtverwaltung von Helsinki von der zeitbankinternen Zeitsteuer zu überzeugen und diese in die lokale Ökonomie zu integrieren. Gelingt das, könnten sich viele Möglichkeiten der Zusammenarbeit zwischen Zeitbankern und der Stadt ergeben. Das kann zu neuen Commons-Projekten führen, die anbieten, was sowohl die Stadt als auch die Zeitbank für wichtig halten. Und es kann neue Formen des Teilens sowie ein anderes Kräftegleichgewicht in der Stadt mit sich bringen. All das käme einer Commonifizierung des öffentlichen Sektors gleich!5

Eine weitere Zukunftsfrage ist, ob Zeitbanken von ethischen Unternehmern genutzt werden können, um ihre Ressourcen zu teilen und eine relative Marktunabhängigkeit zu erreichen. Das würde aus unserer Sicht Commons stärken und die Abhängigkeit von hochkapitalisierten Märkten sowie Konkurrenz reduzieren. Doch dieser Weg ist in Finnland inzwischen durch die rigide Steuergesetzgebung versperrt, die den Austausch professioneller Dienstleistungen über Zeitbanken verhindert. Und es sieht ganz danach aus, als seien diese gesetzlichen Bestimmungen angelegt, Zeitbanken am Wachsen zu hindern und die Dominanz von Markt und Staat sowie der kapitalistischen Ordnung selbst in Frage zu stellen.

Jukka Peltokoski ist Politikwissenschaftler und Pädagoge, Aktivist in der Prekaritätsbewegung und Commoner.

Niklas Toivakainen ist aktives Mitglied der Zeitbank Helsinki und Mitglied von Commons.fi sowie des finnischen Netzwerks für Solidarische Ökonomie.

Tero Toivanen ist Promotionsstudent für Globale Politik an der Universität von Helsinki.

Ruby van der Wekken ist aktives Mitglied der Zeitbank Helsinki und Mitglied von Commons.fi sowie des finnischen Netzwerks für Solidarische Ökonomie.

1 | Siehe: www.ces.org.za (Zugriff am 14. Mai 2015).

2 | Siehe: www.aikaparantaa.net/english.html (Zugriff am 11. November 2014).

3 | Der Historiker Peter Linebaugh benennt vier praktische Dimensionen des Commoning. Erstens waren Commons stets in eine konkrete soziale Umgebung und Kultur eingebettet. Commoners, oder die Mitglieder einer vormodernen Arbeiterschaft, richteten ihr Leben nicht nach den Anordnungen eines Herrschers oder nach Gesetzen aus, sondern entlang der Fragen und Erfahrungen, die die eigenen Lebensgrundlagen sichern konnten. Zweitens war Commoning eng an die dafür notwendigen Tätigkeiten gebunden. Drittens versteht er Commoning als kollektiven Prozess, der selbst wieder Gemeinschaft hervorbringt. Viertens wurden Commons von unten organisiert und waren unabhängig vom Staat oder einer zentralen Autorität. Vgl. Linebaugh, P. (2008): The Magna Carta Manifesto. Liberties and Commons for All, University of California Press, S. 44f und 72.

4 | News Analysis: Finnish time banking activities decline on tax ruling, von Denise Wall, 01.07.2014, http://news.xinhuanet.com/english/indepth/2014-07/01/c_133450353.htm (Zugriff am 14. Mai 2015).

5 | Diese Idee erinnert an das, was Michel Bauwens von der P2P-Foundation als »Partnerstaat« bezeichnet, der die Befriedigung der Grundbedürfnisse aller garantieren soll und gleichzeitig die Infrastrukturen schafft, die Bürgerinnen und Bürger brauchen, um selbst aktiv zu werden. Diese Form der Ermächtigung und Unterstützung zivilgesellschaftlicher Aktivitäten würde nicht zu einer Privatisierung oder Vermarktlichung, sondern zu einer »Commonifizierung« des öffentlichen Lebens führen.